Marina Abramovic, Retrospektive: Lässt sich Schmerz delegieren?

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Ausstellungsansichten „The Artist is Present“, Foto: Franca Candrian, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
Review > Zürich > Kunsthaus Zürich
3. Dezember 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Marina Abramović: Retrospektive.
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, Zürich.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 16. Februar 2025.
www.kunsthaus.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Hirmer Verlag, München 2024, 280 S., 49,90 Euro  |  ca. 52.90 Franken.

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Marina Abramović, „Rhythm 4“, 1974, „AAA-AAA“, 1978, „Relation in Time“ und „Relation in Movement“, je 1977, Foto: Franca Candrian, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
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The Artist is Present, 2010, Performancestill MoMA New York, Foto: Marco Anelli, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
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Ulay / Marina Abramović, Rest Energy, 1980, in Movement“, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Über Marina Abramović zu sprechen heißt, in Superlativen zu sprechen. Das findet auch die Künstlerin. Ohne sie sei Performance, wie wir sie heute kennen, nicht denkbar, sagte Abramović an der Pressekonferenz zu ihrer Retrospektive, die derzeit im Kunsthaus Zürich zu sehen ist. Niemand habe härter gearbeitet, niemand mehr gewagt – und niemand bringe so viele junge Menschen ins Museum wie sie. Recht hat sie. Gemessen an ihrer Omnipräsenz in den Medien wirkt dieses offensive Selfmarketing dennoch wie eine kleine Übung in Selbstironie. Doch Humor ist nicht wirklich Abramovićs Sache. Sie mag es lieber ernsthaft. Und schmerzhaft. Und ausdauernd. Nicht zufällig trägt ihre Autobiografie den Titel „Durch Mauern gehen“. Mit eiserner Disziplin möchte sie deshalb 103 werden – weil Künstlerinnen erst ab 100 wirklich ernst genommen würden, wie sie sagt.

Ende November ist Marina Abramović nun erstmal 78 geworden und die Beauty-Produktlinie „Longevity“, die sie 2023 als Kombi-Therapie aus Energietropfen, Hautlotion und Mentaltraining lancierte, soll künftig nicht nur den Kundinnen ihres Online-Shops, sondern auch ihr selbst helfen, das „Allerwichtigste“ zu fokussieren: „Im Hier und Jetzt ein langes und gesundes Leben zu führen.“

Warum dieser Wunsch nicht von ungefähr kommt, zeigt ihre Zürcher Retrospektive in aller Ausführlichkeit und Brisanz. Schon mit ihrer ersten Performance „Rhythm 10“ begann sie 1973 die Verletzlichkeit des eigenen Körpers öffentlich und sehr grundsätzlich auszuloten. Zehn Messer lagen dafür bereit, mit denen sie sich eine Stunde lang zwischen die gespreizten Finger ihrer Hand hackte – oft auch daneben. Floss Blut, wechselte sie das Messer und erhöhte das Tempo. Ein Jahr später überließ sie die Kontrolle über die Klingen dann dem Publikum, wie auch über Dutzende weiterer Gegenstände: Rosen, Scheren, Ketten, einer geladenen Pistole. Die Menschen sollten mit diesen Dingen und ihr machen, was sie wollten. „Ich bin das Objekt“, lautete der Saaltext zu der sechsstündigen Performance „Rhythm 0“. Zehn Jahre zuvor hatte Yoko Ono mit ihrem legendären „Cut Piece“ ein frühes Vorbild für diese Entfesselung kollektiver Lust an der Grenzüberschreitung auf die Bühne gebracht.

Von Abramovićs radikalisierter Version zeugen in Zürich nun Fotos, ein Video und der Tisch, auf dem die nachgekauften Werkzeuge von damals angerichtet sind. Das Setting verrät viel über das Dilemma, eine passende Präsentationsform zu finden für Abramovićs Kunst, die ihr Drama und ihre pathetische Wucht schon immer vor allem aus dem echten Schmerz und der wirklichen Überforderung bezog, denen sie sich und ihren Körper aussetzte. „Ich zeige den Menschen, dass wenn ich durch meinen Schmerz gehen kann, sie auch durch ihren gehen können“, sagt sie, „ich bin ihr Spiegel“.

Die kathartische Kraft, die sie ihrer Kunst damit zuschreibt, ist in Zürich allerdings nur bedingt zu spüren. Tatsächlich wirkt die Schau über weite Strecken wie eine aufwendige Archivpräsentation. Video-Dokus ikonischer Performances wie „Relation in Space“, „Light Dark“ oder „Rest Energy“, bei der sie und ihr langjähriger Partner Ulay nackt ineinander rannten, sich gegenseitig ohrfeigten oder mit Pfeil und Bogen den Tod des jeweils anderen herausforderten, wechseln sich ab mit rekonstruierten Relikten wie der Kunststoff-Kopie eines Haufens Rinderknochen, deren echte Pendants Abramović 1997 an der Venedig Biennale als Symbol für die Gräuel des Jugoslawien-Krieges in einer viertägigen Performance von faulendem Fleisch gesäubert hatte.

Auch ihre wohl berühmteste Arbeit „The Artist Is Present“ von 2010 ist hier dokumentiert. Drei Monate lang saß Abramović damals an einem Tisch im New Yorker MoMA. Besucher konnten sich ihr gegenüber setzen und Blickkontakt aufnehmen. In Zürich flackern ihre Gesichter – darunter Lou Reed, Tilda Swinton und Lady Gaga – in einem langen Korridor auf Hunderten von Monitoren und beobachten auf der gegenüberliegenden Wand die nach und nach bis zur Bewusstlosigkeit erschöpften Züge der Künstlerin. Doch der Blick auf sie bleibt distanziert. Die Präsentation lässt den Beziehungen am Tisch keinen Raum, sondern interessiert sich nur für das Leid der Schmerzensfrau.

Auch die Re-Performances ausgewählter Werke durch junge Kunstschaffende, die hier für spektakuläre Live-Momente sorgen sollen, treiben seltsam ins Leere. Oder was genau hat Abramović im Sinn, wenn sie eine junge Performerin dieselbe Tortur erleiden lässt, die sie eigentlich sich selbst als Kunstwerk auf den Leib geschneidert hat, nämlich nackt und ohne Halt für eine halbe Stunde in drei Meter Höhe mit den Schamlippen auf einem an die Wand geschraubten Fahrradsattel zu balancieren? Lässt sich so eine Qual delegieren? Und wofür?

Doch es geht auch anders. Gleich zu Beginn flankiert ein nacktes Paar den Eingang zur Ausstellung. Die beiden stehen einander so nahe gegenüber, dass man nicht anders kann als sie zu berühren, wenn man sich zwischen ihnen hindurchzwängt. „Imponderabilia“ gehört zu den populärsten Arbeiten Abramovićs, die sie lange selbst mit Ulay performte. Wer in Zürich die Begegnung scheut, kann einen Seiteneingang nutzen, bringt sich damit aber um die Antwort auf die Frage, wie die Berührung der warmen, atmenden Körper den eigenen Blick auf die Ausstellung verändert. Das ist eine lohnende Erfahrung – und deutlich weniger esoterisch als die Bronzebetten, Rosenquarzkissen und Kristallduschen, mit denen Abramović in ihrem Spätwerk am Ende der Schau zum Strahlentanken und Detoxing einlädt.