Johan Grimonprez, All Memory is Theft: Die Wahrheit liegt im Schnitt

Johan Grimonprez
Johan Grimonprez, All Memory is Theft, 2025, Ausstellungsansichten ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Karlsruhe, © Johan Grimonprez, Fotos: © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Felix Grünschloß
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13. Oktober 2025
Text: Dietrich Roeschmann

Johan Grimonprez: All Memory Is Theft.

ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Lorenzstr. 19, Karlsruhe.
Mittwoch bis Freitag 10.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 8. März 2026.

www.zkm.de

Johan Grimonprez
Johan Grimonprez, All Memory is Theft, 2025, Ausstellungsansichten ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Karlsruhe, © Johan Grimonprez, Fotos: © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Felix Grünschloß
Juan Grimonprez
Johan Grimonprez, Soundtrack to a Coup d’État, 2024, Filmstill, Courtesy the artist, © Johan Grimonprez
Johan Grimonprez
Johan Grimonprez, All Memory is Theft, 2025, Ausstellungsansichten ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Karlsruhe, © Johan Grimonprez, Fotos: © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Felix Grünschloß

Der Kameramann auf dem Rollfeld drängelt sich durch die Menge, die gut gekleidet über den staubigen Grund rennt. „Kamera läuft“, ruft er. Kleinbusse nehmen Menschen auf und fahren hektisch davon. Die Wüstenhitze flimmert auf dem heißen Blech. Als die Entführer ein paar Minuten später die drei Flugzeuge sprengen, die sie hier in den letzten Tagen zur Landung gezwungen haben, verdunkelt schwarzer Rauch den Himmel. Ein Reporter hält einem Zwölfjährigen in rotem Pulli das Mikro vors Gesicht: „Wie war es mit den Guerillas? Hast du mit ihnen geredet?“ – „Ja klar, die waren sehr nett. Sie sagten, Kämpfen sei ihr Leben.“ – „Hattest du Angst?“ – „Nein. Es war gut. Und aufregend“ – „Lust auf ein zweites Mal?“ – „Nein, da verpasse ich zu viel in der Schule.“

Im Herbst 1970 entführte die palästinensische Terrorgruppe Black September mehrere Flugzeuge nach Jordanien, um Gefangene freizupressen. Tagelang begleiteten Journalistin­nen das Geschehen in der Wüste. Ihre TV-Bilder sind das Material, aus dem Johan Grimonprez 1997 die atemberaubende Videocollage „dial H-I-S-T-O-R-Y“ zusammenschnitt, mit der im ZKM Karlsruhe nun die bislang umfassendste Retrospektive des belgischen Medienkünstlers eröffnet. Die rund einstündige Tour de Force durch die Geschichte der Flugzeugentführungen der 1970er Jahre ist stilprägend für Grimonprez’ künstlerische Arbeit, in der er Medienkritik, Politik und Schönheit konsequent zusammen denkt, durch absurde Schnitte produktive Widersprüche provoziert und das Publikum zuverlässig mit Adrenalin flutet.

Die Premiere von „dial H-I-S-T-O-R-Y“ auf der documenta X bedeutete für den damals 35-Jährigen den internationalen Durchbruch. Was ihn umtrieb, war die Logik der Angst, mit der Massenmedien ihr Publikum fesseln und die Perspektiven auf Geschichte bis zur Groteske verengen. Sein Porträt der Terroristinnen zwischen Freundlichkeit und Brutalität, Kaltblütigkeit und Freiheitsliebe kreist um das Problem der Wahrheit. Das Dokumentarische ist immer eine Fiktion: Die Frage ist, welche Geschichte man erzählen möchte.

In Karlsruhe hat Grimonprez neben Videoinstallationen, Fotografien und Texten auch sein Archiv ausgebreitet. Auf zahlreichen historischen TV-Geräten aus dem ZKM-Fundus flimmern News-Schnipsel, Werbe-Clips, Heimvideos oder absurde Szenen wie die eines aus dem Himmel stürzenden Holzhauses, das krachend in einem Feld landet. Die Filme, die er daraus schneidet, strotzen nur so vor Verweisen auf Romane von Don DeLillo, Paul Virilios Medientheorie oder Kinolegenden wie Jean-Luc Godard und Alfred Hitchcock, dem er 2005 mit „Looking for Alfred“ auch eine surreale Hommage widmete.

Dessen Sinn für Thrill, Suspense und Timing atmet auch Grimonprez’ jüngste, vom ZKM koproduzierte Arbeit „Soundtrack to a Coup d’État“, die in diesem Jahr als Bester Dokumentarfilm für den Oscar nominiert war. In Karlsruhe ist die Experimental-Doku in einem eigens abgeteilten Kino zu sehen. In atemlosen Schnitten und eng verwickelten Erzählsträngen rekonstruiert Grimonprez hier die Geschichte der Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba 1961 und der Verstrickungen westlicher Regierungen in das Attentat, deren Hunger nach Rohstoffen sie über Leichen gehen ließ. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Jazz, der sowohl den Sound zum Schwarzen Freiheitskampf lieferte, für den Lumumba stand, als auch vom CIA instrumentalisiert wurde, um dessen erfolgreiche Unabhängigkeitsbestrebungen zu torpedieren. Louis Armstrong, den die US-Regierung 1961 auf Tournee durch Zentralafrika schickte, wurde so ohne es zu ahnen zum Botschafter einer vorgeblich freien Welt, deren Freiheit nur auf Kosten der Unfreiheit jener Menschen zu haben war, vor denen er auftrat. Dass der Film trotz Überlänge auch im Museum funktioniert, verdankt sich der zwingenden Dramaturgie, mit der Grimonprez all die kleinteiligen Bild-, Sound- und Textinformationen zu einem mitreißenden Strom bündelt, der in der Montage nicht nur die Komplexität der modernen Welt abbildet, sondern auf selten eindringliche Weise Empathie und Widerstandsgeist schürt.