Harry Kramer und seine Zeit. Kinetische Familienaufstellung

Harry Kramer und seine Zeit, Ausstellungsansicht Kunsthalle Lingen, 2025, Foto: Maria-Anna Berlage
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14. Oktober 2025
Text: Peter Boué

Harry Kramer und seine Zeit.

Kunsthalle Lingen, Kaiserstr. 10A, Lingen.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 11. Januar 2026.

www.kunsthallelingen.de

Harry Kramer und seine Zeit, Ausstellungsansicht Kunsthalle Lingen, 2025, Foto: Maria-Anna Berlage
Harry Kramer und seine Zeit, Ausstellungsansicht Kunsthalle Lingen, 2025, Foto: Maria-Anna Berlage

[— artline>Nord] Wir stehen vor einem zartgliedrigen Geflecht aus Metalldraht, eine Figur, die sich um sich selbst dreht, vergleichbar mit einem schlauchartigen Organ. Oder einem transparenten phantastischen Tier. In Innern drehen sich, angetrieben von kleinen Elektromotoren, Räder, die wiederum andere Räder in Bewegung versetzen. Ihre archaische Erscheinung, ihre rostrote Farbe haben etwas Ursprüngliches. Sie erinnern an die Erfindung des Rades selbst. Das kinetische Objekt „Lindwurm“ von 1964 nimmt die Bewegung des Rades auf, die schon immer eine des Fortschritts war – aber es lässt sie auf spielerische Weise ins Leere laufen, wie die kreiselnde Figur des Wurms in eine stillgestellte Zeit.

Der in Lingen geborene Künstler Harry Kramer (1925-1997) wäre in diesem Jahr 100 geworden. Eine umfassende Ausstellung in der Kunsthalle Lingen stellt nun ausgewählte Werke aus seinem Schaffen im Dialog mit Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern seiner Generation vor. Mit von der Partie sind unter anderen Mary Bauermeister, Hanne Darboven, Konrad Klapheck, Eva Aeppli, Jean Tinguely und Dieter Roth. Um einen unverstellten Blick auf die Objekte zu ermöglichen, entschied Kuratorin Meike Behm, die hohe Ausstellungshalle im ehemaligen Industriekomplex aus den 1850er Jahren ohne Einbauten zu belassen. Als ausgebildeter Tänzer und Schauspieler hatte Harry Kramer schon früh ein große Interesse an Bewegung und ein Faible fürs Kinetische. Die Ausstellung zeigt einige Figuren, unter anderem Handpuppen seines „Mechanischen Theaters“ von 1956 ­– 1958. Sie sind aus geschliffenem Holz, deutlich beeinflusst von afrikanischen Masken, ergänzt durch Nägel und Kunststoff-Elemente. Als passendes Pendant zeigt sich in diesem Zusammenhang die große kinetische Skulptur von Eva Aeppli und Jean Tinguely mit ihrem auf Knopfdruck belebbaren Rumpf und einem grotesken, weiblichen Vampirskopf als Haupt.

Harry Kramer bewegte sich in seiner Kunst der 1960-70er Jahre durchaus in verschiedene Richtungen. Mit den Drahtskulpturen wurde er 1964 auf der documenta 3 auch einem großen Publikum bekannt, später mit seinen Paraphrasen der Pop-Art. Er war auch der Lichtkunst eines Otto Piene nahe, der mit Projektionen aus polierten Edelstahlkugeln aus seiner Serie der „Geschichte des Feuers“ von 1968/71 dabei ist. Aber auch Verformungen, die nur von der Zeit selbst herrühren, hat sich Kramer gewidmet, etwas mit seinen „Brotköpfen“ ab 1971. Im Glas luftdicht verschlossen, verlieren sie über die Jahre ihr ursprüngliches Gesicht – ebenso wie die benachbarten Schokoladenköpfe von Dieter Roth. Diese Ausstellung zeigt, wie eine damals als neu empfundene Zeit ihre Kunst prägte.