Medardo Rosso: Die Erfindung der modernen Skulptur.
Kunstmusem Basel Neubau, St. Alban-Graben 16, Basel.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 10. August 2025.
www.kunstmuseumbasel.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2025, 496 S., 49,80 Euro | ca. 68.90 Franken.
Was die Vergangenheit der Kunst über die Gegenwart erzählen kann, zeigt sich in der beeindruckenden Schau „Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“ aus dem mumok in Wien, die aktuell im Kunstmuseum Basel Station macht. Auf zwei Etagen fordern 50 Plastiken von Rosso über 60 Werke von Kunstschaffenden aus den letzten hundert Jahren zum Dialog heraus. Dabei geht es weniger um morphologische Ähnlichkeiten, als darum, wie fruchtbar sich Rossos richtungsweisendes Denken auf Nachfolger:innen ausgewirkt hat.
In Turin 1858 geboren, verbringt Medardo Rosso nur kurze Zeit an der Accademia di Belle Arti di Brera, bevor er wegen seines rebellischen Charakters rausgeworfen wird. Er knüpft Kontakte zur Avantgardegruppe der „Scapigliatura“, stellt als quasi Autodidakt aus und engagiert sich für den Anarchismus. Frau und Sohn verlässt er und zieht 1889 nach Paris, wo er Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Avantgarde kennenlernt, unter anderen Apollinaire, Zola, Degas und Modigliani. Rosso entdeckt Wachs und Gips für seine bildhauerische Praxis – Materialien, die damals nur als Vorstufen künstlerischer Gestaltung galten. In seiner Werkstatt giesst er seine Werke sogar vor Publikum.
Auch seine Ausstellungen inszeniert Rosso unkonventionell, immer im Kontext mit anderen. Als hätte der Künstler selbst Hand angelegt, bilden drei Werke in enger Nachbarschaft den Auftakt im Erdgeschoss des Kunstmuseum Basel: Paul Cézannes „Badende“, ein Torso von Auguste Rodin und „Henri Rouart“ von Rosso. Weitere neun Schlüsselwerke, auf originalen Sockeln, sind locker über den Raum verteilt, flankiert von zwei seitlichen Vitrinen mit Rossos Fotografien. Sie sind ein wichtiger Teil seines Werkprozesses, zeigen sie doch sein medienübergreifendes, experimentelles Schaffen. Er fotografiert seine Werke unter unterschiedlichen Lichtverhältnissen, manipuliert Negative und Positive, indem er sie beschneidet und überzeichnet, um so neue Wirkungsfacetten zu erproben. Die Resultate inspirieren ihn, weitere Versionen seiner Objekte zu erschaffen.
Dieses serielle Arbeiten wird im zweiten Obergeschoss anschaulich, wo sechs Varianten des „Enfant juif“ (1893) der Massenproduktion von Sherrie Levine und Andy Warhol trotzen. Das goldgelbe Wachs lässt das Licht durchscheinen und die Kindergesichter fragil und flüchtig wirken. Rosso interessierte sich nicht für Monumentales, die pathetischen Denkmäler seiner Zeit nannte er spöttisch „grosse Briefbeschwerer“. Mit Auguste Rodin tauschte er Briefe und Werke, aber die gegenseitige Wertschätzung endete mit dem skandalträchtigen „Balzac“ (1898). Die Ähnlichkeit mit dem Oeuvre des jüngeren Künstlers war eklatant und wurde öffentlich kritisiert. In „An open letter to Monsieur Rodin, sculptor“ wirft der Autor André Ibels Rodin vor, den Jüngeren kopiert zu haben. Sichtbar wird das auf zwei Fotografien von Edward Steichen wo die Bronze des Nationaldichters, aus der Achse gerückt, pathetisch im Mondlicht steht. In ebenso prekärer Schräglage taumelt Rossos „Bookmaker“ (1894) daneben im Raum.
Weitere wichtige Themen wie Prozess und Performance, Berühren, Umarmen und Formen, Erscheinen und Verschwinden, Mise en Scene und Ungestalt leiten den Gang durch die Räume, immer im erfrischenden Dialog mit jüngeren und älteren Kunstschaffenden. Wie weit kann man gehen, bis ein Gesicht oder Körper verschwindet? Der Ausstellung gelingt es, Rossos revolutionären Denkansatz aufzuzeigen, dass alles aus dem Licht geboren wird und nichts im Raum stofflich ist. Seine bewegten Figuren von einfachen Menschen sind fliessende Gebilde voller Emotion. Sie wagen sich bis an die äusserste Grenze des Erkennbaren und berühren in der Auflösung die Vergänglichkeit.