Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus.
Lenbachhaus München (Kunstbau). Luisenstr. 33., München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 30. März 2025.
www.lenbachhaus.de
Was wäre wenn? Das ist eine kleine, eigentlich unscheinbare Frage, durch die sich ein Kosmos aus Träumen, Fantasien und Möglichkeiten auftun kann. Wie etwa im Roman „Die letzten Tage von Neu-Paris“ (2016) von China Miéville, der darin in einem ins Surrealistische übersteigerten Paris 1950 lebendige Kunstwerke gegen satanistische Nazis ins Rennen schickt. Ein historischer Bezugspunkt ist dabei die surrealistische Poesie- und Widerstandsgruppe La Main à plume, die 1941 im durch die Nazis besetzten Frankreich entstand. Beide, Miévilles irrwitziger Roman und die politischen Poet*innen, sind derzeit im Münchner Lenbachhaus Thema. In einer Ausstellung, die auf den in diesem Jahr 100 Jahre alt gewordenen Surrealismus auf eher ungewohnte Weise blickt.
„Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus“ heißt die alleine durch ihre Überfülle an Kunstwerken und Dokumenten überwältigende, nach einem Song der Band Tocotronic benannte Schau, die permanent „Was wäre wenn?“-Fragen im Kopf auslöst. Was wäre, wenn es keine Nazis gegeben hätte? Keinen Hitler, keinen Faschismus, keine Verfolgung der „entarteten Kunst“? Dann hätte es vielleicht auch in Deutschland eine lebendige surrealistische Bewegung gegeben. So wie in Frankreich oder Belgien, oder in Prag, Mexiko-Stadt, in Ägypten oder Puerto-Rico, wie man in der Ausstellung erfährt. Orte, an die es von Faschismus und Krieg vertriebene Künstler*innen verschlug.
„Leerstelle Deutschland“ heißen denn auch zwei der 14 Kapitel, deren Startpunkt „Paris“ in Zusammenhang mit dem Surrealismus noch sehr vertraut klingt. Die aber gleich danach einen Schlenker nach Prag machen, in den Spanischen Bürgerkrieg führen, bald gefolgt von einer Überfahrt von Marseille nach Martinique, wo wir unter anderem der Fotografin Germaine Krull und dem Dichter und Haupt-Theoretiker des Surrealismus André Breton begegnen. Breton veröffentlichte 1924 das „Manifest des Surrealismus“ und forderte darin die Auflösung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit. Angefeuert durch eine Idee der absoluten Freiheit deutete er später dann den Surrealismus in eine sozial-revolutionäre Bewegung um.
Genau diese Linie greifen die Kurator*innen Stephanie Weber, Adrian Djukić und Karin Althaus auf. Und sie lassen einen bei ihren „Versuchen, einen immer noch eng definierten und politisch verharmlosten surrealistischen Kanon zu revidieren“, zahlreiche Entdeckungen machen. Dazu gehören etwa die gespenstischen Arbeiten des Prager Fotografen und Dichters Jindřich Heisler, die er mit Kleister und Fotonegativen schuf. Prag wurde von 1933 an zu einem Zentrum der antifaschistischen Avantgarde. Auch der für seine politischen Collagen bekannte John Heartfield war dort tätig, und bald in Paris, wo zeitweise auch Max Ernst, Wols oder Hans Bellmer lebten. Alle drei landeten in einem Internierungslager für Männer in Les Milles. Auf filigranen Zeichnungen von Bellmer sieht man die Ziegelstruktur des Lagergebäudes. Ebenfalls in Paris entstand 1933 Viktor Brauners „Der seltsame Fall des Herrn K.“, ein bissiges Panoptikum mit einem zechenden General, der von Alfred Jarrys „Ubu Roi“ inspiriert ist.
Als die Wehrmacht die Kanalinseln besetzte, brachte Claude Cahun dort mit ihrer Lebensgefährtin „Paper Bullets“, Mini-Flugblätter, in Umlauf. Die kürzlich von Kate Winslet dargestellte Lee Miller taucht als Vertreterin der ägyptischen Gruppe Art et Liberté und Dokumentaristin des kriegszerstörten Deutschlands auf. Ihr Selbstporträt in Hitlers Badewanne ist berühmt. Dass sich danach ein Berliner Kabarett „Die Badewanne“ nannte, ist weniger bekannt. Wie so einiges in der Ausstellung, in der surrealistische Platzhirsche wie Ernst, Magritte oder Dalí nur am Rande oder gar nicht auftauchen. Am Ende wird der Surrealismus auch noch als Waffe gegen Kolonialismus und Rassismus ins Feld geführt. Weil er die Kunst, die Fantasie als etwas feiert, das sich nicht berechnen, nicht beherrschen lässt. So wie die lebendigen Kunstwerke in Miévilles „Neu-Paris“. Und dieses Widerständige ist es auch, was diese Ausstellung eindrücklich ehrt.