Konzepte des All-Over.
Museum Haus Konstruktiv, Selnaustr. 25, Zürich.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 13. April 2025.
www.hauskonstruktiv.ch
So langsam sind die Tage des Zürcher Haus Konstruktiv im ewz-Unterwerk Selnau gezählt. Im April fahren hier die LKW vor, dann muss alles raus. Doch wenn der Umzug nach Plan läuft – wovon auszugehen ist –, knallen schon im Mai die Korken zur Wiedereröffnung im gerade mal acht Tramstationen entfernten Löwenbräukunst-Areal. Für Direktorin Sabine Schaschl war dieser Ortswechel eine gute Gelegenheit, die brutalistische Architektur des Hauses ganz zum Schluss noch einmal mit einer spektakulär wuchernden Ausstellung zu bespielen, inspiriert von einer Arbeit, die als Herzstück der Sammlung seit 2001 fest im Obergeschoss installiert ist und dort eine historische Perspektive auf immersive Raumerfahrungen des Mid Century Modernism erlaubt. Der „Rockerfeller Dining Room“, 1963/64 von Fritz Glarner (1899-1972) als Esszimmer für den damaligen Gouverneur von New York und späteren US-Vizepräsidenten entworfen, ist ein begehbares Full-Surround-Painting, komponiert aus trapezförmig angeordneten Farbfeldern in Rot, Gelb, Blau und in Abstufungen von kreidigen Grau- bis Weißtönen. In der Tradition von russischem Konstruktivismus, De Stijl und Bauhaus geben sich Kunst und Alltag hier die Hand, oder genauer: Kunst und Interior Design – und das gute Leben der High Society. Man meint hier das Lachen der Gäste fast zu hören, oder ist es das Klirren der Eiswürfel in ihren Martini-Gläsern?
Für Sabine Schaschl lag es nahe, von diesem Fixpunkt ausgehend auch die anderen Räume im Haus Konstruktiv in sinnliche Erfahrungszonen zu verwandeln. Ihre Ausstellung „Konzepte des All-Over“ legt einen Parcours der unterschiedlichsten Umgebungen durch das Haus, angefangen bei den gigantischen Gitterstrukturen, mit denen Esther Stocker (*1974) die Wände der Eingangshalle überzogen hat und den Raum so in ein Perspektivlabor verwandelt, das man wie ein Dummy betritt. Zwei überdimensionale, von der Decke hängende Papierknäuel tragen das gleiche Muster, was einem das Gefühl vermittelt, sich als winziges Wesen durch eine viel zu große Welt zu bewegen. Carlos Cruz-Diez’ (1923-2013) „Chromosaturation“ dagegen spielt mit den physiologischen Voraussetzungen unserer Farbwahrnehmung. 1965 konzipiert, entwirft auch diese Installation eine Laborsituation, bestehend aus drei aufeinander folgenden Kammern, die in intensives, jeweils andersfarbiges Licht getaucht sind. Gewöhnt sich das Auge an eine der Farben, taucht auf der Netzhaut plötzlich deren Komplemtärfarbe auf. Beim Passieren der Kammern beginnt so der Raum zu flimmern, Augen, Kopf und Körper werden kreativ, ohne dass wir Einfluss darauf hätten. Eine ähnlich hynotische Wirkung haben auch die Lichtstrudel und Blütenmetamorphosen von Ana Mortiel (*1981), die in zwei Videokabinetten eine dezente Maleleiinstallation der Mexikanerin im zweiten Obergeschoss begleiten. Die Leinwände dieser Bildkörper, wie Schutzelemente um die sechs Pfeiler der Ausstellungsraums montiert, tragen Spuren von Sprühfarbe, so zart, dass sie den Blick beständig zwischen Nähe und Distanz flimmern lassen. „Cortical Structures“ lautet ihr Titel, was weniger die Bilder meint, als die neuronalen Strukturen zwischen Hirnhaut und Großhirnrinde, die unsere Wahrnehmung von ihnen erzeugen. Immersion als Imagination.
Gemessen daran nimmt sich Christine Streulis (*1975) raumfüllende Improvisation über ein Gemälde von Max Bill auf den ersten Blick geradezu konventionell aus – auch wenn die Wände bei ihr deutlich stärker in Bewegung sind. Doch „Who pays the Bill“ ist mehr als ein Flirt mit Pop-, Op- und Street Art: „Wer“, so Streuli, „zahlt und zahlte denn tatsächlich die Rechnung, wenn in der Kunstgeschichte vorwiegend männliche Kollegen unterstützt, gesammelt und gezeigt wurden?“ Gute Frage. Aktuelle Ausstellungen zu Binia Bill oder Lucia Moholy in Winterthur wüssten da eine Antwort. Den überraschenden Schlusspunkt dieser kurzweiligen Schau setzt Reto Pulfer (*1981) mit seinen notdürftig vernähten, dicht bekritzelten Textilarbeiten „Tunnel“ und „Zustand Urgeflecht“, die wie eine nomadische Siedlung aus Zelten, Jurten und Stoffhöhlen das gesamte obere Stockwerk einnehmen, gewissermaßen als sinnlich ausufernde Vorzimmerflucht zu Fritz Glarners strengem „Dining Room“.