Matisse. Einladung zur Reise: Verdichtung der Empfindungen durch Farbe

Henri Matisse
Henri Matisse, Baigneuses à la tortue, 1907-08, Saint Louis Art Museum, Foto: Saint Louis Art Museum, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zurich
Review > Basel > Fondation Beyeler
1. November 2024
Text: Iris Kretzschmar

Matisse – Einladung zur Reise.
Fondation Beyeler, Baselstr. 101, Basel-Riehen.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch bis 20.00 Uhr, Freitag bis 21.00 Uhr.
Bis 26. Januar 2025.
www.fondationbeyeler.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:Hatje Cantz, Berlin 2024, 216 S., 58 Euro | ca. 81.90 Franken.

Henri Matisse
Henri Matisse, Intérieur rouge, nature morte sur table bleue, 1947, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Foto: Walter Klein, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zurich
Henri Matisse
Henri Matisse, Poissons rouges et sculpture, 1912, The Museum of Modern Art, New York, Foto: The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zurich

Welch ein Genuss, wieder in den paradiesischen Bildwelten von Henri Matisse (1869-1954) zu schwelgen, gerade in Zeiten einer weltweiten Bedrohungslage! Kuratiert von Raphael Bouvier, ist in Riehen eine sorgfältig konzipierte Ausstellung mit bekannten Werken des französischen Meis­ters zu erleben, die alle Schaffensperioden umspannt und das Zusammenspiel der verschiedenen Gattungen in Matisse’ Œuvre besonders hervorhebt. Die 72 Gemälde, Scherenschnitte und Skulpturen, darunter neun Werke aus der Fondation Beyeler selbst, stammen aus renommierten Privatsammlungen und Museen Europas. Dazu kommen viele Leihgaben aus Übersee, die teilweise schon lange nicht mehr in der Schweiz zu sehen waren.

Die Atmosphäre von „Luxe, calme et volupté“ war nicht nur für den Künstler werkbestimmend, auch für Ernst Beyeler ein Herzenswunsch an die Museumsarchitektur von Renzo Piano. Die berühmte Wendung stammt aus „L’invitation au voyage“, einem Gedicht von Charles Baudelaire, das der Ausstellung den Titel verleiht. Matisse reiste viel und das Kennenlernen anderer Kulturen war ihm wichtig. So folgen die Räume seinen Reisedestinationen und lassen das Publikum den schöpferischen Prozess von Werk zu Werk miterleben. Die Befreiung der Farbe, die Entgrenzung der Perspektive, die Vereinfachung der Form und die Ornamentalisierung des Bildraums – eine Entdeckungsfahrt ins Herz der Malerei. Nach dem frühen Werk, „La Desserte“ (1896/97), in gedeckten Farben, folgt die Entdeckung des südlichen Lichtes in Saint-Tropez. Mit dem ikonischen Gemälde „Luxe, calme et volupté“ (1904), unter dem Einfluss von Paul Signac entstanden, bricht Matisse ins Reich der reinen Farben auf, zerlegt sie in einzelne „Farbsteinchen“, um dem Flimmern der gleissenden Sonne Gestalt zu geben. 1905 machen Fensterblicke in gesättigten Farben die südliche Mittagshitze im Fischerdorf Collioure spürbar und führen im Pariser Herbstsalon zum Skandal: Die „wilden Maler“ werden zu den Fauves. Matisse verarbeitet die verschiedensten Einflüsse in seinen Gemälden. Die Ornamentik der islamischen Kunst lebt in den von Reisen nach Algerien und Marokko mitgebrachten Textilien und Teppichen auf Bildern weiter. Nach einer Italienreise 1907 entstehen Gemälde von Badenden, die nicht nur von seinem früh erworbenen Cézanne-Bild, auch von Giottos Fresken in der Arenakapelle und afrikanischer Plastik inspiriert sind. Der Dialog zwischen Malerei und Plastik wird im grossen Saal besonders deutlich, wenn in „Goldfische und Skulptur“ (1912) die gemalte Plastik ihr leibhaftiges Echo im Ausstellungsraum findet. Ist es die Tristesse der Zeit, die sich während des Ersten Weltkriegs in der Farbkraft der Atelierbilder niederschlägt und Schwarz als Farbwert neu ins Spiel bringt?

In den 1920er und 1930er Jahren bricht in Nizza Matisses Phase der Odalisken an. Der Künstler entdeckt das Sujet des 19. Jahrhunderts neu für sich. Seine sinnlich gelagerten Modelle in dekorativ überbordenden Räumen könnte man heute kritisch betrachten, weil vielen aus feministischer Perspektive gesehen die Individualität abgesprochen wird. Doch dabei geht die Frage, was Matisses Kunst eigentlich ausmacht, verloren. Vielleicht wird diese Debatte heute, zum Nachteil vieler Bildwerke, zu scharf geführt. Matisse’ Fokus liegt auf der Verdichtung der Empfindungen durch Farbe, Form und Licht. Motive sind vor allem Anlass zum malerischen Ausloten seiner Bildideen, die im Spätwerk der 1940er und 1950er Jahre zu den „gouaches découpeés“ führen. Dieser Schlussakkord der Entwicklung, den Matisse selber, als Höhepunkt bezeichnet hat, ist im letzten Saal zu erleben. Die Leichtigkeit und scheinbare Unbekümmertheit dieser Werke lassen die Anstrengungen, die dahinterstehen, vergessen. Bis zum Ende bleiben eine tiefe Verbundenheit mit Natur und Mensch Ausgangspunkt für Matisses Bildschöpfungen. Am Ende gibt ein Medienraum mit Filmen und Fotos aufschlussreiche Einblicke in Werkprozess und Leben des Künstlers.