Natascha Sadr Haghighian, Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult): Kompositionen für die Trillerpfeife

Natascha Haghighian
Natascha Sadr Haghighian, Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult), Installationsansicht Lenbachhaus München, 2023, Foto: Simone Gänsheimer
Review > München > Städtische Galerie im Lenbachhaus
22. September 2023
Text: Jürgen Moises

Natascha Sadr Haghighian:Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult).
Städtische Galerie Lenbachhaus, Luisenstr. 33, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 8. Oktober 2023.
www.lenbachhaus.de

Natascha Haghighian
Natascha Sadr Haghighian / Natascha Süder Happelmann, Social Media Series Ort: Zollhafen, Trapani, Sizilien, 2018, Foto: Jasper Kettner
Natascha Haghighian
Natascha Sadr Haghighian, Pssst Leopard 2 A7+, 2013–, Ausstellungsansicht ACCENTISMS, Taxispalais Kunsthalle Tirol, 2017, Foto: Günter Kresser, Courtesy the artist
Natascha Haghighian
Natascha Sadr Haghighian, Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult), Installationsansicht Lenbachhaus München, 2023, Foto: Simone Gänsheimer

Er ist bis zu elf Meter lang, vier Meter breit und wird von seinen Herstellern Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall Defence als „die modernste Version des weltweit führenden Kampfpanzers“ beworben. Die Rede ist vom Leopard 2 A7+, der dafür entwickelt wurde, Aufstände, Proteste und Unruhen in städtischer Umgebung zu befrieden. Wir erinnern uns: Der Rüstungskonzern Rheinmetall wurde im März 2023 zum DAX-Mitglied geadelt. Denn das Geschäft mit Waffen boomt seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Wenn man nun im Eingangsbereich des Münchner Lenbachhauses auf die Arbeit „pssst Leopard 2 A7+“ von Natascha Sadr Haghighian (*1967) stößt, könnte das eine Folge dieser Entwicklungen sein. Aber tatsächlich hat die iranisch-deutsche Künstlerin bereits 2013 mit ihrer „fortlaufenden Klanguntersuchung“ begonnen.

Seitdem entwickelt Haghighian ihre Arbeit immer weiter. Und das hat sie auch für die von Stephanie Weber kuratierte Ausstellung „Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult)“ getan. Optisch besteht „pssst Leopard 2 A7+“ aus Holzpaletten, auf denen Legoplatten mit integrierten Kopfhörerbuchsen platziert sind. Stöpselt man einen Kopfhörer dort ein, hört man Klangstücke, die direkt oder indirekt mit dem Leopard und der Reiseroute der Arbeit zu tun haben. Darunter sind: Drohnenklänge, Texte zu Panzerverkäufen nach Ungarn und in die Türkei oder der Leoparden-Witz, den Annalena Baerbock bei der Aachener Karnevalssitzung erzählt hat. Was Haghighians „demilitarisierte Kopie“ sonst mit dem echten Leopard verbindet, das sind nur Länge und Breite. Aber in Kombination mit den Klängen reicht das, um entsprechende Bilder zu evozieren. Durch den Ukraine-Krieg ist „pssst Leopard 2 A7+“ hochaktuell. Und sich in aktuelle Debatten einzuklinken, diese zu stören oder zu verstören, zu irritieren, ist etwas, was die in Bremen Bildhauerei lehrende Künstlerin gerne macht. Bekanntestes Beispiel: Die Venedig-Biennale, wo sie 2019 mit einem Pappmaschee-Felsbrocken auf dem Kopf unter dem Pseudonym Natascha Süder Happelmann auftrat. Eine Figur mit einem Stein-Kopf sieht man auch in der Video-Trilogie

„social media series“, wo sie verschiedene „Orte der Migration“ abläuft. Dazu gehören „Ankerzentren“ für Geflüchtete in Bayern, Tomatenplantagen in Apulien und das beschlagnahmte Schiff der Organisation „Jugend Rettet“ im Zollhafen von Trapani. Szenen aus den Videos hängen auch als Drucke an der Wand. Außerdem sind Tomatenkisten aus Apulien sowie zugehörige Werbebanner als Teile der Installation „Landscape (vacancy)“ zu sehen.

Um die entsprechenden Zusammenhänge zu verstehen, braucht es einen Blick in das Begleitheft. Und diese partielle Unzugänglichkeit könnte man der sehr politischen, oft erhellenden und auch aufrüttelnden Ausstellung ein wenig vorwerfen. Im Heft erfährt man etwa, dass die riesigen Latex-Zungen am Boden als „affektive Apparate“ reden, lügen, schweigen oder „einen um Kopf und Kragen bringen“ können. Man erfährt, dass die leicht unheimlichen Laute aus den zu einer Art Spinnennetz verknüpften Lautsprechern Auftragskompositionen für Trillerpfeifen sind. Auch auf dem titelgebenden Stoffbanner „Jetzt wo ich dich hören kann tun meine Augen weh (Tumult)“ gibt es eine Trillerpfeife. Es ist dem 2022 verstorbenen Aktivisten Hassan Numan gewidmet, der Trillerpfeifen als Warn-Instrumente im Kampf gegen Abschiebung einsetzte. Sehr politisch ist auch die aktuellste Arbeit „Uns soll Wir sollen (Kontrafaktur)“, die aus sechs Digitalzeichnungen besteht. Darauf sieht man unter anderem Jakob Fuggers Buchhalter Matthäus Schwarz und den Bochumer Geochemiker Tobias Skowronek, der aus einem gesunkenen Schiff geborgene Armreife untersucht. Die Geschichte, die sich daraus entspinnt: Von den Fuggern um 1550 hergestellte Armreife dienten als Währung im Sklavenhandel und brachten den Augsburgern viel Geld ein. Später wurden aus deren Material viele der weltbekannten Benin-Bronzen hergestellt. Was zeigt: Die deutschen kolonialen Verstrickungen reichen weit zurück. Und schon damals verdiente ein deutsches Unternehmen groß am Leid von Anderen.