Christopher Kulendran Thomas.
Kunsthalle Zürich, Limmatstr. 270, Zürich.
Bis 10. September 2023.
www.kunsthallezurich.ch
Es passiert nicht oft, dass man sich in der Kunsthalle Zürich plötzlich zurück versetzt fühlt in längst vergangene Jahrzehnte – wie aktuell ins Paris des Informel. Gut ein Dutzend großformatige Malereien hängen hier an der Wand, in Farbwahl und Duktus erinnern sie an Bilder von Antoni Tàpies oder Jean Fautrier. Tatsächlich stammen sie von dem Londoner Künstler Christopher Kulendran Thomas (*1979), der sie nach Vorlage von digitalen Bildfindungen einer auf koloniale britische Kunstgeschichte trainierten Künstlichen Intelligenz gemalt hat. Dass diese wiederum den Bildern aktueller Kunstmarkt-Stars aus Sri Lanka ziemlich ähneln, erzählt viel über die verwinkelten Wege von Produktion, Rezeption und Appropriation in der postkolonialen Gegenwart. In der Kunsthalle liefern die handkopierten KI-PNG-Dateien das Intro zu Thomas’ Schau „For real“ über die komplexen Bedingungen kollektiver Erinnerung. Als Gast hat er den tamilischen Künstler Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam eingeladen, der bemalte Keramiken zeigt.
Das zentrale Ereignis, um das Thomas’ Arbeiten kreisen, ist der blutige Bürgerkrieg zwischen tamilischen Separatisten und der Regierungsarmee in Sri Lanka, der von 1983 bis 2009 mehr als 80.000 Todesopfer forderte und nahezu eine Million in die Flucht trieb. Thomas erzählt die Geschichte vom Ende her, wo das Nachdenken darüber einsetzt, was in diesen 26 Jahren geschehen ist, wer die Definitionsmacht darüber hat und wie diese durch neue Technologien gefestigt oder unterlaufen werden kann. „Being Human“, eine immersive Installation zwischen Galerie, Kinosaal und Skulpturenschau, wird hier zur Bühne für eine Auseinandersetzung über das westlich geprägte Konzept „Mensch“, das den Menschenrechten zugrunde liegt, sowie über die ambivalenten Effekte des Nachkriegswirtschaftsbooms in Sri Lanka für die lokale Kunstszene. Die wachsende Liberalität im Land, so Thomas, gehe einher mit dem schleichenden Vergessen der Geschichte der tamilischen Bevölkerung und ihres Kampfes für Tamil Eelam, den eigenen Staat. Dieser steht im Zentrum der Installation „The Finesse“. Die Längswand des abgedunkelten Saals füllt eine Kamerafahrt durch ein Waldgebiet, in dem Mitglieder der tamilischen Kreativszene heimlich eine nachhaltig, digital und genossenschaftlich organisierte Projektstadt gründen wollen, als zeitgemäße Version von Tamil Eelam. Auf fünf LED-Monitoren flackert dazu eine atemlose Collage aus Videodokus, Spielfilmausschnitten und fiktiven Interviews mit computergenerierten Stars wie Kim Kardashian, die von der tamilischen Revolution berichten. Eine kurzweilige, eindringliche Meditation über die fließenden Grenzen zwischen Geschichtsschreibung, alternativer Wirklichkeit und Propaganda – und über die widersprüchliche Konstruktion von Weltbildern.