(K)ein Puppenheim – alte Rollenspiele und neue Menschenbilder: Zwischen Kasperlbühne und Theatrum Mundi

Puppenheim Djurberg
Nathalie Djurberg, Puppets from Hungry Hungry Hippoes, 2007, © the artist/VG Bild-Kunst Bonn, 2023, Courtesy Sammlung Goetz, München, Foto: Thomas Dashuber
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18. Juli 2023

(K)ein Puppenheim – alte Rollenspiele und neue Menschenbilder.
Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Bis 7. Januar 2024.
www.sammlung-goetz.de und www.muenchner-stadtmuseum.de

Puppenheim
Herbert List, Die „Unbekannte der Donau“, 1944/46, © Herbert List Nachlass, Hamburg
Puppenheim Sherman
Cindy Sherman, Untitled #417, 2004, © the artist, Courtesy Hauser & Wirth und Sammlung Goetz, München
Puppenheim Schütte
Thomas Schütte, United Enemies, 1994, © the artist/VG Bild-Kunst Bonn, 2023, Courtesy Sammlung Goetz, München, Foto: Raimund Koch

Das ultimative Böse hat eine lachende Fratze: Das Vexierspiel mit der Clownsmaske haben Stephen King und die „Batman“-Macher, aber auch Cindy Sherman in ihren Selbst-Inszenierungen auf die Spitze getrieben. In der Ausstellung „(K)ein Puppenheim – alte Rollenspiele und neue Menschenbilder“ im Münchner Stadtmuseum wird – mit Anspielung auf Ibsens „Nora“ im Titel – die Ambivalenz alles Puppenhaften skulptural, malerisch, grafisch und fotografisch ausgereizt. Die überbordende, unheimliche und unbedingt sehenswerte Schau, die sich auf 1400 Quadratmetern in der Abteilung „Puppentheater/Schaustellerei“ erstreckt, setzt Marionetten, Moritatentafeln und medizinische Wachsmodelle in Dialog mit Lichtbildern aus dem Bestand des Hauses sowie mit zeitgenössischen Kunstwerken aus der Sammlung von Ingvild Goetz. Das Medium Puppe ist Stellvertreter für diverse Narrative. Dank der Aufgeschlossenheit und Experimentierfreude des Kuratorenteams profitieren alle Seiten davon: Die historischen Objekte werden in die Gegenwart geholt, die Aura der Kunst wirkt umso intensiver, und es ergeben sich jede Menge neuer Bild- und Sinn-Verwandtschaften.

Zwischen Kasperlbühne und Theatrum Mundi, Jahrmarkt-King-Kong und Panoptikum begegnet man den deformierten Physiognomien der „United Enemies“ von Thomas Schütte und den drastisch-drallen Horror-Puppen von Nathalie Djurberg. Man schaut irritiert auf Pawel Althamers Keramik-Selbstporträt als Fötus und die marschierenden „Kriegs-Krüppel“ von Otto Dix, die Yael Bartana für ihr Video „Degenerate Art Lives“ animiert hat. In rund 500 Exponaten von über 50 Künstlerinnen und Künstlern treffen sich Surreales und Alltägliches, Spielerisches und Bizarres, Volkstümliches und Pornografisches. Es sind überwiegend ernste Spiele, die hier in einem Parcours mit 13 Kapiteln zu sehen sind. Die Münchner Künstlerin Tunay Önder hat eine Gründerzeit-Puppenstube mit beißenden Kommentaren eines weiblichen Teenagers mit türkischen Wurzeln versehen: „Natürlich gibt es keine offiziellen Regeln in der Familie, dass man pro Penis ein Zimmer kriegt.“ Und die US-Amerikanerin Laurie Simmons arbeitet sich in ihren Foto-Serien und Miniatur-Villen am „Home sweet Home“ als eine Variante von Frauengefängnis ab. In Simmons‘ grandiosem Film-Musical „The Music of Regret“ wiederum interagiert Meryl Streep derart überzeugend verliebt mit einer männlichen Puppe, dass man Robert Redford überhaupt nicht vermisst.

Herbert List hat im Kriegsjahr 1944 die makabre Melancholie und obszöne Brutalität der Gestalten des Präuscher‘schen Wachsfigurenkabinett im Wiener Prater atmosphärisch dicht eingefangen und Herlinde Koelbl den eisernen Willen zur Gemütlichkeit in deutschen Wohnzimmern der 1970er Jahre sichtbar gemacht. Der Schattenriss-Film „Fall Frum Grace, Miss Pipi’s Blue Tale“ der afroamerikanischen Künstlerin Kara Walker wiederum arbeitet ein reales Verbrechen illustrativ auf und wirkt formal ebenso poetisch, wie er inhaltlich explizit ist: Ein Sklave wurde gequält und getötet, nachdem die sexuelle Beziehung zu seiner Herrin aufgedeckt worden war. Der Gegensatz von filigraner Ästhetik und grausamem Inhalt sorgt hier für nachhaltige Verstörung.

Nicht ohne Trigger-Warnung werden auch Szenen aus dem traditionellen Münchner Figurentheater von Papa Schmid und Franz Graf Pocci gezeigt. Da wird umso deutlicher, wie sich rassistische Stereotypen halten. Die Kuratoren haben allerdings bei heute nur noch im Kontext ausstellbaren Werken für Gegenpole gesorgt: So ist neben dem Scherenschnitt-Szenenbild zu „Kasperl unter den Wilden“ von 1908 „Woyzeck on the Highveld“ von William Kentridge und der Handspring Puppet Company (1992) zu sehen, das unter Minenarbeitern in Südafrika spielt. Und im Dekolonialen Puppentheater „King Kongo – eine skandalöse postkoloniale Revue“ von Gloire Mbwayama wurde König Leopold II., der die Menschen in Belgisch-Kongo millionenfach abschlachten ließ, zur Karikatur-Puppe. Dieses Monstrum an Fäden lächerlich zu machen, ist der Versuch einer theatralen Bewältigung eines nicht minder monströsen Traumas.