Doris Salcedo: Wunden dürfen nicht berührt werden

Doris Salcedo
Doris Salcedo, Plegaria Muda, 2008-2010, Installationsansicht CAM–Fundação Calouste Gulbenkian, Lissabon, 2011, © Doris Salcedo, Foto: © White Cube (Patrizia Tocci)
Review > Riehen > Fondation Beyeler
17. Juli 2023
Text: Jolanda Bozzetti

Doris Salcedo.
Fondation Beyeler, Baselstr. 101, Riehen/Basel.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr, Freitag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 17. September 2023.
www.fondationbeyeler.ch
Katalog bei Hatje Cantz, Berlin 2023, 248 S., 58 Euro | ca. 79.90 Franken.

Doris Salcedo
Doris Salcedo, Palimpsest, 2013-2017, Installationsansicht Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 2022, Courtesy of Doris Salcedo and White Cube, © Doris Salcedo, Foto: Mark Niedermann
Doris Salcedo
Doris Salcedo, Disremembered X, 2020/2021, © Doris Salcedo, Foto: Ron Armstutz
Doris Salcedo
Doris Salcedo, A Flor de Piel II (Detail), 2013-2014, © Doris Salcedo, Foto: Patrizia Tocci

Es ist der Boden, die Erde selbst, die weint. Zahlreiche Wassertropfen steigen wie kleine Glasperlen aus den sandigen Steinplatten auf, verbinden sich zu Buchstaben, zu Vor- und Nachnamen. Versickern wieder in der Erde, auf der sich weitere Namen als abgedunkelte Spuren eingeschrieben haben. Um diese Namen und die Geschichten dahinter zu finden, mussten Doris Salcedo und ihr Team über fünf Jahre lang recherchieren. Weder die EU noch Frontex waren bereit, Auskunft zu geben, die Opfer zu nennen, die Jahr für Jahr, Tag für Tag auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer sterben. Die Namen, die Salcedo in ihre Installation „Palimpsest“ (2013-2017) aufgenommen hat, gehörten Menschen aus 35 verschiedenen Ländern. Zum Zeitpunkt ihres Todes waren sie zwischen 20 Tagen und 46 Jahren alt.

Beim Lesen und Umhergehen wird man stumm, horcht in sich hinein. Ist es möglich sich zu erinnern an Menschen, die man nicht kannte? Wie können wir ihrer gedenken, uns in der Trauer mit ihnen verbinden? Das Nennen ihrer Namen gibt ihnen etwas Würde zurück, verdeutlicht, dass hinter den bloßen Nachrichten-Zahlen Menschenleben und Schicksale ganzer Familien stehen. „Palimpsest“ mahnt zum Erinnern, zum Nicht-Vergessen. Und macht zugleich deutlich, wie schwierig dieses Erinnern ist: Ständig kommen neue Opfer hinzu, die Namen überlagern und überschreiben sich in einem kontinuierlichen Prozess.

Doris Salcedo sagt über sich selbst, ihre Themen könne sie sich nicht aussuchen. Arbeiten in Kolumbien sei Arbeiten aus dem Zentrum der Katastrophe heraus. 1958 in Bogotá geboren, studierte sie dort Kunstgeschichte und Malerei und in New York Bildhauerei. Nach dem Studium bereiste sie Kolumbien und traf dabei auf Angehörige und Überlebende der zahllosen Gewalttaten, die das Land seit Beginn der blutigen Kämpfe 1948 und des Bürgerkriegs 1964 erschütterten. Seither setzt sich Salcedo mit Tod, Gewalt, Schmerz und Trauer auseinander. Die Kraft ihrer Arbeiten liegt darin, diese niemals explizit zu zeigen. Vielmehr ist es eine Annäherung in respektvoller Distanz und poetischen Bildern, die niemals kitschig werden. Es geht um Sichtbarkeit, Würde und Anerkennung.

So auch in dem frühen Werk „Atrabiliarios“ (1992-2004), das den zahllosen in Kolumbien verschwundenen Menschen, den Desaparecidos, gewidmet ist. Einzig die Schuhe, größtenteils von Frauen, blieben von ihnen übrig und dienten zur Identifizierung. Einzeln oder als Paar sind diese auf Augenhöhe in Nischen der Museumswand platziert, transparent verdeckt von schimmernden tierischen Membranen, die mit chirurgischem Faden in die Gipswand eingenäht sind. Wunden, die niemals verheilen können. Zu groß ist die Leerstelle, die das massenhafte Verschwinden dieser Menschen über Generationen hinterlässt.

„Plegaria Muda“ – stummes Gebet – heißt eine weitere bildstarke Installation. Dicht an dicht sind im gesamten Raum Paare hölzerner Tische aufgestellt, deren Maße unmittelbar an Särge denken lassen. Die Tischplatten sind über eine handhohe Erdschicht verbunden, aus der durch das Holz hindurch leuchtend grüne Grashalme sprießen. Anlass für diese ästhetisch und technisch gleichermaßen raffinierte Arbeit war die Beschäftigung mit jugendlicher Bandenkriminalität in Los Angeles und die Erkenntnis, dass Opfer wie Täter oft aus einem ähnlichen sozioökonomischen Umfeld stammen und somit unter ähnlichen benachteiligten Verhältnissen leiden. Ein Phänomen, das sich auf der ganzen Welt wiederfindet. Für das Gedenken an eine zu Tode gefolterte Krankenschwester entwickelte Salcedo mit „A Flor de Piel“ eine wahrhaft atemberaubende Arbeit: Tausende konservierte, gepresste Rosenblütenblätter wurden mit feinsten Stichen zu einem großen Tuch zusammengenäht. Fließend und fein wie Seide liegt es in mehreren Faltenwürfen auf dem Boden aus, überzieht diesen wie eine Haut. Eine Geste radikaler Zärtlichkeit als Antwort auf die Grausamkeit menschengemachter Gewalt.