Matter. Non Matter. Anti Matter: Überschneidungen des Digitalen und Physischen

Matter. Non Matter
Matter. Non-Matter. Anti-Matter, Ausstellungsansicht im ZKM, Karlsruhe, 2022, © Foto: Esteban Gutiérrez-Jiménez
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10. April 2023
Text: Dieter Roeschmann

Matter. Non-Matter. Anti Matter.
ZKM, Lorenzstr. 19, Karlsruhe.
Mittwoch bis Freitag 10.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 23. April 2023.
www.zkm.de

Anfang September 2002 startete im ZKM Karlsruhe der Abbau der von Peter Weibel und sechs weiteren Kuratoren konzipierten Ausstellung „Iconoclash“. Die Schau, die sich in aller Ausführlichkeit Fragen der Repräsentation und des Bilderstreits in Kunst, Wissenschaft und Religion widmete, gilt bis heute als erste Blockbluster-Ausstellung im ZKM. Mehr als 40.000 Besucher kamen. Sie wurde ausführlich in Zeitungen, in der Fachliteratur und auf Tagungen rezipiert. Und Bruno Latours Merve-Bändchen, das zur Ausstellung erschien, avancierte zum kunsttheoretischen Bestseller.

Zwei Jahrzehnte später fragt das ZKM in „Matter. Non-Matter. Anti-Matter“ nun, wie genau sich eine derart erfolgreiche Ausstellung auch nach Abbau der Texttafeln, Kunstwerke und anderen Exponate – etwa Trümmer der Berliner Mauer oder Überresten einer im Bildersturm zerstörten Pietá aus dem 15. Jahrhundert – über die Zeit retten ließe. 2019 startete das Haus das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Beyond Matter“ mit dem Ziel der „digitalen Wiederbelebung ausgewählter vergangener wegweisender Ausstellungen“. Ausgangspunkt der Schau, die daraus hervorging, ist die rasante Verlagerung der Produktion und Vermittlung bildender Kunst in den virtuellen Raum, die sich in vielen Museen beobachten lässt, zuletzt auch beschleunigt durch die Schließung der Häuser aufgrund der Corona-Pandemie. Das Physische und das Virtuelle – die Anwesenheit der Dinge und die Wirklichkeit der Daten – verschmelzen zunehmend miteinander und haben so die Grenzen des Museums in den digitalen Raum erweitert.

Die Reanimation von „Iconoclash“ in diesem hybriden Feld mündet in einem labyrinthischen, durchaus kurzweiligen Parcours durch unterschiedliche Zu­stände von Räumlichkeit. Flankiert von Werken aus der Schau von 2002 – darunter Martin Kippenbergers provozierende Skulptur eines gekreuzigten Frosches („Zuerst die Füße“, 1990) oder Piero Manzonis 1961 in Dosen abgefüllte „Künstlerscheisse“ – führt das interaktive 3D-Modell der Ausstellung, das sich per QR-Code an jeder Ecke betreten lässt und über einen selbstlernenden Algorithmus den individuellen Interessen der Betrachter:innen folgt, hinter die Kulissen von „Iconoclash“ und ihres kuratorischen Konzepts. Die Überschneidung von physischer und digitaler Räumlichkeit bleibt dabei nicht ohne Einfluss auf das sinnliche Erlebnis. Im Halbdunkel zwischen deckenhohen Archivregalen und Computerstationen lädt diese Ausstellung weniger zum Sehen ein als zur Recherche in Unmengen von Interviews, Videos und weiteren Materialien – und das nicht nur zu „Iconoclash“, sondern auch zu der 1985 von Jean-François Lyotard für das Centre Pompidou in Paris kuratierten Schau „Les Immateriaux“.