Sophie Thun: phileas.
Distanz Verlag, Berlin, 112 S., 34 Euro / ca. 49.90 Franken.
Sophie Thun: Trails and Tributes.
Kunstverein Hildesheim, Am Kehrwieder 2, Hildesheim.
Mittwoch 17.00 bis 20.00 Uhr, Samstag und Sonntag 14.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 17. Juli 2022.
Als die lettische Künstlerin, Fotografin und Designerin Zenta Dzividzinska 2011 starb, hinterließ sie ein Archiv mit Tausenden von Fotografien. Nur wenige hatten je den Weg in eine Ausstellung gefunden, von vielen existierten lediglich die Negative, einige waren noch nie ausbelichtet. Die in Wien lebende Künstlerin Sophie Thun (*1985) entdeckte die Fotografien der Lettin, die mit ZDZ signierte, vor zwei Jahren bei einem Rechercheaufenthalt in Riga. Einen Sommer lang arbeitete sie sich durch das Material, entwickelte die Negative und machte so das Werk einer Künstlerin sichtbar, die in klar komponierten Szenen den Alltag auf dem Land dokumentierte oder das Leben von Freundinnen und Familie, immer vertraut, beiläufig und intim, und die bereits in den 1960er Jahren mit handlichen Kleinkameras eine Perspektive auf sich selbst in ihrer jeweiligen Umgebung fand, die nicht nur wegen des ausgestreckten Armes am Auslöser die Bildsprache der Selfies vorwegnahm.
In ihrer Soloschau „Trails and Tributes“ im Kunstverein Hildesheim ließ Sophie Thun diese Fotografien kürzlich mit ihren eigenen Arbeiten in einen Dialog treten und ging dabei unter anderem der Frage nach, was es bedeutet, als Künstlerin das fotografische Werk einer Verstorbenen zu entwickeln und damit Entscheidungen zu treffen, die weniger auf Wissen beruhen als auf der Vermutung künstlerischer Motivationen oder möglicher ähnlicher Erfahrungen. Tatsächlich verraten die Fotografien einiges über die Bedingungen, unter denen ZDZ wie viele Künstlerinnen in Osteuropa bis in die 1980er Jahre arbeiteten, neben ihrem Brotjob, im privaten Raum abseits einer größeren Öffentlichkeit, in einem permanenten Prozess künstlerischer Selbstreflexion.
Thun interessiert sich schon seit langem für Fragen der Selbstdarstellung im Spannungsfeld zwischen dem realen Raum und dem Bildraum. Ihre soeben erschienene Monografie „phielas“ – mit Texten von Catherine Wood, Lisa Long, Lucy Gallun und Charlotte Cotton – gibt einen guten Einblick in ihre Arbeit. Oft fotografiert sich die Künstlerin per Fernauslöser vor einer bestimmten Wand im Ausstellungsraum, an der später dann das jeweilige Selbstporträt in Lebensgröße zu sehen ist. Ihre Fotografien markieren so gleichermaßen die An- und Abwesenheit der Künstlerin in Bild und Raum. Ihren Körper begreift Thun dabei vor allem als Instrument. Meist setzt sie ihn ein, um Handlungsräume innerhalb von Machtstrukturen sichtbar zu machen, etwa wenn sie sich nackt in leeren Hotelzimmern fotografiert, in denen sie zuvor als technische Assistentin erfolgreicher Künstler gearbeitet hat, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren – und das Material für die eigene künstlerische Arbeit, die dann oft nachts entsteht, allein, vor Ort, mit dem eigenen Körper und dem Fernauslöser. Man kann vermuten, das Zenta Dzividzinska an solchen Akten kritischer Selbstermächtigung Gefallen gehabt hätte.