Sonia Kacem, Zurich Art Prize 2021: Überfluss und Überschuss

Sonia Kacem, Le Superflu, Installationsansicht im Museum Haus Konstruktiv, 2021, mit den Arbeiten „Ensemble of Three (Ramps)“, 2021, „Ensemble of Three (Concave)“, 2021, und „Ensemble of 30 Signs“, 2018
Review > Zürich > Museum Haus Konstruktiv
22. Dezember 2021
Text: Dietrich Roeschmann

Sonia Kacem: Zurich Art Prize 2021.
Museum Haus Konstruktiv, Selnaustr. 25, Zürich.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 16. Januar 2022.
www.hauskonstruktiv.ch

Als Sonia Kacem (*1985) Ende 2019 von ihrem halbjährigen Stipendiumsaufenthalt in Kairo in ihr Atelier in Amsterdam zurückkehrte, ahnte sie noch nicht, dass sie bald sehr viel Zeit haben würde, ihre fortgesetzten Recherchen über die Kunst des Nahen Ostens und deren kalligrafische, geometrische und florale Traditionen auszuwerten. Im Museum Haus Konstruktiv in Zürich sind jetzt die jüngsten Arbeiten der mit dem Zurich Art Prize 2021 ausgezeichneten Bildhauerin zu sehen, die größtenteils seit Beginn der Pandemie entstanden sind. Von rechten Winkeln ist hier wenig zu sehen. Im Gegenteil. Schon im ersten Saal räkeln und spreizen sich entspannt vier überlebensgroße Arabesken aus Wabenkarton auf dem Boden. Schlangenförmig gewunden, paarweise aneinander geschmiegt  oder wie mit der Feder hastig in den Raum gekritzelt, entwirft Kacem hier eine kleine Typologie des Rankenormanents. Mit tänzerischer Leichtigkeit bewegen sich diese massigen Volumen zwischen den mit bedruckten Stoffbahnen bezogenen konkav gewölbten Fake-Architekturen, die sie vor den Wänden montiert hat. Ihren Usprung haben sie in kleinformatigen Aquarellen, deren Linienformationen sie ins Monumentale vergrößert hat, um dem titelgebenden „Superflu“,  dem Überfluss und Überschuss, der mit dem Ornamentalen und Dekorativen assoziiert wird, eine prominente Bühne zu bereiten.

Diese comichaft überhöhte Präsenz flüchtiger Zeichen legt eine Spur ins aktuelle bildhauerische Werk Kacems, die seit Langem mit Stoff arbeitet. Im ersten Obergeschoss verteilen sich an der Längswand aus bunt gestreiften Markisenstoffen gefaltete Bildobjekte, die wie kunstvolle Op Art-Adaptionen von Blumenstillleben wirken. Ordnung und Chaos halten sich die Waage, die Geometrie der Streifen bricht sich im

Fließen der Falten. Gegenüber schimmert ein „Ensemble of 30 signs“ an der Wand, das sich – aus Schichtholz geschnitten und mit zart eingefärbtem Klarlack überzogen – als eine Art Text aus wiederkehrenden Kürzeln präsentiert, tatsächlich aber nur vorgibt, einem System zu folgen. Jenseits von diversen Spiegelungen und Dopplungen, die das Gefühl triggern, versteckten Bedeutungen auf der Spur zu sein, gibt es hier nichts zu entziffern. Auch die anderen, eng mit Latex, Lurex oder Kunstleder bespannten Wandobjekte spielen mit der Neugier, die das Verhüllen erzeugt. In kunstvollen Faltungen legt Kacem den Stoff hier über die mit sperrigen Objekten gefüllten Unterkonstruktionen und lässt sie so wirken, als würden sie von nichts als einer hauchdünnen Membran zusammengehalten, der es kaum gelingt, die unter ihr gefesselte Energie zu bannen. Dass diese Arbeiten entfernt an Masken erinnern, muss kein Zufall sein. Während der Pandemie waren sie Kacems häufigste Begleiter. Was sie auf seltsam berührende Weise auszeichnet, könnte man die Mimik der Dinge nennen.