Sebastião Salgado: Die Empathie des fotografischen Blicks

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18. Februar 2021
Text: Roberta De Righi

Sebastião Salgado: Exodus.
Kunstfoyer, Maximilianstr. 53, München.
Montag bis Sonntag 9.30 bis 18.45 Uhr.
Bis 30. Juni 2021.
www.versicherungskammer-kulturstiftung.de

Bildband:
Sebastião Salgado: Exodus.
Taschen Verlag, Köln 2016, 432 S., 50 Euro / ca. 54.90 Franken.

Berühmt wurde er Mitte der 1980er Jahre mit Bildern aus der Hölle – von den Arbeitern in der Goldmine im brasilianischen Serra Pelada. 1994 dokumentierte Sebastião Salgado (*1944) dann den Völkermord in Ruanda: die gewaltige Fluchtbewegung der Tutsi vor dem Gemetzel durch die Hutu – und die spätere Flucht der Hutu vor den Tutsi ins damalige Zaire. Das deprimierend daueraktuelle Thema seiner Schwarzweißbilder sind Ausbeutung, Krieg, Naturkatastrophen und die dadurch bedingte Flucht von Millionen von Menschen. Für seine Arbeit, an deren Düsternis er selbst nach der Rückkehr aus Ruanda beinahe zerbrochen wäre, bekam Salgado 2019 als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Jetzt zeigt in München das Kunstfoyer der Versicherungskammer Bayern, wo zuletzt 2015 „Genesis“ zu sehen war, die ebenfalls von Salgados Frau Lélia Wanick kuratierte Ausstellung „Exodus“. Sie zeigt in fünf Kapiteln 170 Schwarzweißfotografien aus der Dekade zwischen 1990 und der Jahrtausendwende, allesamt noch mit der analogen Kamera aufgenommen. Sie stammen aus dem gleichnamigen Bildband, den der Taschen-Verlag 2016 herausbrachte. Dieser wiederum basiert auf einem Band von 2000. Das Thema Flucht begleitete Salgado 30 Jahre lang über alle Kontinente. Und ob in Afrika, Lateinamerika oder Asien – Landflucht ist abgesehen vom Krieg Elendsursache Nummer eins.

Zur Fotografie war der studierte Ökonom auf Umwegen gekommen. Weil sie sich in der Opposition gegen die brasilianische Militärdiktatur engagierten, gingen er und seine Frau 1969 nach Paris ins Exil. Er arbeitete für die International Coffee Organisation, ehe er den Job 1973 fürs Fotografieren aufgab. Obwohl Autodidakt, war Salgado bald für große Agenturen tätig, darunter auch Magnum, ehe er 1994 seine eigene Agentur Amazonas Images gründete. Ob die kriegsversehrte Bevölkerung im ausgebombten Kabul 1996, Kinder im Internierungslager für vietnamesische Boat People bei Hongkong oder kurdische Witwen und Halbwaisen mit den Fotos verschwundener Väter im Nordirak – seine Kamera ist immer schmerzhaft nah dran. Müde und hoffnungslos sehen die Männer im Boot 1997 aus, die auf dem Weg nach Europa vor Gibraltar aus dem Mittelmeer gefischt wurden. Die Aufnahme könnte auch von 2020 stammen. Was für zusätzliche Beklemmung sorgt, ist die Differenz zwischen der Härte des Dargestellten und der ästhetischen Qualität – Salgados Fotos sind immer auch irre gute Bilder nach einem klassischen Kompositionsprinzip, mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten und oft ikonisch überhöhten Figuren. Der Mensch vor dem Hintergrund seines durch Profitgier oder Krieg zerstörten Lebensraumes erscheint hier in biblischer Dimension. Das hat Salgado auch Kritik eingebracht: Dass er das Elend ästhetisiert und seine Protagonisten instrumentalisiert.

Doch der Zynismus-Verdacht bei einem, der Leben und Sterben der Geschundenen dieser Erde während monatelanger Aufenthalte hautnah miterlebte, geht an der Sache vorbei. Was wäre die Alternative: keine oder nur schlechte Bilder? Man muss seine Aufnahmen nicht mögen, aber man kann die Augen nicht vor ihnen verschließen. In ihrer Heimat Brasilien betreiben die Salgados längst konkreten Naturschutz: Im Bundesstaat Minas Gerais, wo er auf einem Landgut aufwuchs, kauften sie Land zurück, gründeten das Instituto Terra und pflanzten seither fast drei Millionen Bäume. Das Leben der Indigenen wiederum hat Salgado vielfach dokumentiert. Er war es auch, der schon im April im einem offenen Brief einen „Genozid“ am Amazonas, ausgelöst durch Corona, befürchtete: Die unter Bolsonaro gnadenlose Abholzung des Regenwaldes minimiert die Lebensräume der indigenen Bevölkerung noch weiter. Die schlechte gesundheitliche Versorgung in den abgelegen Regionen kann dem Virus wenig entgegensetzen. Die Regierung Bolsonaro lässt es weiterhin geschehen.

[Roberta De Righi]