Raoul De Keyser: Das Experiment als Programm

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13. Mai 2019
Text: Roberta De Righi

Raoul De Keyser: Œuvre.
Pinakothek der Moderne, Barer Str. 40, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 8. September 2019.

www.pinakothek.de

Fußball ist wie geschaffen für ein Vexierspiel zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion: Tornetz und Spielfeldmarkierungen als Gitterstrukturen und Linien inmitten von sehr viel Raum. Der belgische Maler Raoul De Keyser (1930-2012) schärfte daran seinen Blick. Jetzt widmet ihm die Münchner Pinakothek der Moderne in Kooperation mit dem Genter Stedelijk Museum voor Actuele Kunst eine umfassende Retrospektive mit hundert Werken in sechs Räumen – die erste in Deutschland.

In der Kunst De Keysers hallt nach, dass er zunächst als Kunstkritiker und Sportreporter arbeitete, ehe er sich nebenbei als Autodidakt mit 34 Jahren an die Leinwand traute. Auch die Wahl des Bildausschnitts, ein wie in Nahaufnahme herangezoomtes Detail, erinnert an die Ästhetik des Sportjournalismus. Gleich im ersten Saal der Schau, von Kurator Bernhart Schwenk als Querschnitt durch das Œuvre konzipiert, sind De Keysers erstes und letztes Bild zu sehen, zwei Kleinformate. „Z.t. (Rand)“ von 1964 zeigt scheinbar ein Landschaftsfragment, das auch eine Farbstudie sein könnte. „Robben 2“ von 2012 wirkt noch abstrakter. Zu erkennen ist nur eine aufsteigende Diagonale, verschwimmendes Weiß im Grün. Letzteres nimmt Bezug auf den Fußballspieler Arjen Robben, der 2012 weder in Hollands Nationalmannschaft noch beim FC Bayern glänzte. Doch den Kontext versteht nur, wer auch „Robben 1“ sieht: Da ist ein Foto einmontiert, auf dem der Stürmer im Oranje-Trikot wie tot vor der Torlinie liegt. Bei „Robben 2“ fehlt zwar die Figur, aber nicht das Sujet.

De Keyser, der erst 1992 durch Jan Hoets Documenta IX international bekannter wurde, nahm seine alltägliche Umgebung mit einer Detailfreude wahr, die jedem Achtsamkeits-Eleven Tränen in die Augen treibt. Das offenbart auch die Dreier-Hängung von „Tuin“ (Garten), „Tuin“ und „Hoek“ (Ecke): Da wird einerseits deutlich, dass ihn Grenzbereiche allgemein interessieren, hier der Übergang von Innen und Außen. Andererseits ist das Konzept sehr fotografisch, man hört es quasi dreimal klicken. Zuerst blickt man durch ein raumhohes Fenster in den Garten des Künstlers auf die leuchtend gelben Stämme dreier Bäume – Close-up: Im zweiten sieht man nur die Bäume, im dritten nur den Winkel zwischen Mauer und Fensterrahmen. Tatsächlich liegen seinen Bildern häufig Fotografien zugrunde. Hier wird das Beiläufige zum Eigentlichen, mit viel leerer Fläche, oft flirrend vor atmosphärischer Intensität („Angoulême“, 1994). Die Ausstellung präsentiert Werke aller Schaffensphasen, und die sind so unterschiedlich, dass man nicht immer denselben Maler vermuten würde. Vielleicht aufgrund seiner eher späten „Berufung“  ist ihm das Experiment Programm. Was allerdings auch dazu führt, dass Raoul De Keysers Werk nur in der Vielheit unverwechselbar ist.

Er, der die längste Zeit seines Lebens als Beamter angestellt und finanziell nicht auf die Kunst angewiesen war, leistete sich Freigeist im Umgang mit Fläche und Farbe. Mal schafft er pure Farbfeldmalerei, mal greift er Hard Edge auf wie in „Baron in Al Held-Veld” (1964/66, Familienhund Baron in einer Al-Held-Hommage), mal ist er nah an der Pop-Art. Für die Serie „Zeilen heuvels“ (Segel und Hügel) von 1979 benutzt er unterschiedliche Formate. Das „Bleu de Ciel“ ist gar nicht Blau und in „Clochard“ von 1978 wirkt der Bildträger wie eine Arte-povera-Persiflage. Denn noch etwas zeichnet diese Bilder aus: Humor. Darum wagte man im letzten Raum auch die unkonventionelle Hängung: 18 Kleinformate sind hier wie auf der Wäscheleine nebeneinander aufgereiht. Ganz am Rand das Abbild eines Gehstocks, auf den De Keyser zuletzt angewiesen war, „To walk“ lautet der lakonische Titel.

Nur ein Gemälde steht für sich: „Oever“ (2005), nur 18 x 15,5 Zentimeter groß. Es führt noch einmal eindrucksvoll die suggestive Kraft dieser Malerei vor. Natürlich sieht man Meer und Wolken und sogar Möwen – vielleicht ist es aber auch nur ein Pinselwisch zwischen blauen und grauen Streifen.