Konkrete Gegenwart. Jetzt ist immer auch ein bisschen gestern und morgen: Alten Hasen die Gegenwart erklären

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14. Mai 2019
Text: Dietrich Roeschmann

Konkrete Gegenwart. Jetzt ist immer auch ein bisschen gestern und morgen.
Museum Haus Konstruktiv, Selnaustr. 25, Zürich.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 5. Mai 2019.

www.hauskonstruktiv.ch

Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass konkrete Kunst mit ihrem Hang zu Gesetz und Ordnung, Sicherheit und Serie nicht zwangsläufig an ihren eigenen Fesseln oder in Humorlosigkeit scheitern muss, dann liefert ihn derzeit die Gruppenschau „Konkrete Gegenwart” im Zürcher Haus Konstruktiv. Das Museum, das 1986 aus einer Stiftung aus dem Umfeld der vier großen „Zürcher Konkreten” Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse hervorging, hat sich seit seiner Eröffnung 2001 im brutalistischen Bau des Unterwerks Selnau vorgenommen, dem Echo der konstruktiven und konkreten Kunst in der Gegenwart nachzulauschen. So überraschend und kurzweilig wie in der aktuellen Ausstellung geschieht das selbst hier nur selten.

Gleich im Entrée wartet die Schau mit einem referenzsatten und erzählfreudigen Setting auf, welches ihr Motto „Jetzt ist immer auch ein bisschen gestern und morgen” denkbar vielseitig in Szene setzt. Unter zwei palmenartigen Skulpturen aus Glasfaserkabeln, die Vanessa Billy (*1978) hier der eigensinnigen Spannung des Materials folgend in die Höhe wuchern lässt, unterzieht die dänische Künstlergruppe Superflex eine Armee von 80 schlecht gemachten Möbeldiscounter-Kopien des Stuhlklassikers „Die Ameise” von Arne Jacobsen einer rabiaten Wiederangleichung an sein Originaldesign. Das Ergebnis ist so traurig wie aufschlussreich. Am Boden liegen noch die mit der Stichsäge entfernten überflüssigen Kanten von Sitzflächen und Lehnen, die den Stühlen in den vergangenen 60 Jahren in namenlosen Designerbüros gewachsen waren, um einer Verletzung des Urheberrechts zu entgehen. Von der Wand dahinter spreizen sich unterdessen ein paar konstruktivistische BiIdobjekte des US-Amerikaners Wyatt Kahn (*1983) unter intensiver Hasenleimgrundierung, flankiert von zehn sauber übereinander montierten Bananenkistenfragmenten, mit denen der mexikanische Künstler Jose Dávila (*1974) den berühmten „Stacks” von Donald Judd ein halbes Jahrhundert nach ihrem Siegeszug als schönstes Interior-Design-Objekt der Minimal Art hier ein recyclebares Denkmal setzt. Schon in diesem ersten Saal wird deutlich, wie junge Kunstschaffende der konkreten Kunst heute ihre Referenz erweisen, ohne sich in ihr Korsett der Selbstbezüglichkeit von Form und Farbe zu fügen. Humor und Poesie spielen hier auf Augenhöhe mit dem Ernst und dem revolutionären Forschergeist der Pioniere der 1920er- bis 50er-Jahre. „The future of thinking”, eine schwindelerregende Installation aus schwarzen Holzlatten, die Esther

Stocker (*1974) im fünfstöckigen Treppenhaus des Museums arrangiert hat, liefert da eine schöne Metapher. Wie die Sprengzeichnung eines historischen Konterreliefs des russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin visualisiert sie die Energie, die zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler in der Vergangenheit für die Gegenwart anzapfen. Das gilt für die großartigen, in XXL-Format skizzierten Rothko-, Kelly- und Blinky-Palermo-Rip-Offs des Kubaners Django Hernández (*1970) ebenso wie für Jan Kiefers (*1979) Beuys-Persiflage in Gestalt zweier Konkrete-Poesie-Gemälde: „Ja Ja Ja”, „Nein Nein Nein”. Wie flüchtig diese Energie dennoch sein kann, zeigt Stefan Burger (*1977) mit seiner temporären Arbeit „Jahrelanger Randabfall”. Das knapp zwei Quadratmeter große Bildobjekt, das da in Hüfthöhe hängt wie ein Wandschutz, wurde bis vor kurzem als Schneideplatte im Zürcher Fotofachlabor Tricolor genutzt. Die Schnitte im Aluminium zeugen von dem handwerklichen Vorgang, gewissermaßen der körperlichen Seite der Fotografie, sie sind Gebrauchsspuren und abstrakte Zeichnung zugleich. Nach dem Ende der Ausstellung wird die Platte wieder ins Fotolabor zurückkehren und als Bild nur noch in der Erinnerung existieren wie die dann auch übertünchte Wandmalerei, mit der Clare Goodwin (*1973) eine hintersinnige Engführung von suprematistischem Bühnenbild und Hipster-Café-Dekokonzept probt – oder wie das in geometrischen Ornamenten angelegte Spiegelkabinett von Timo Nasseri (*1972), in das man eintauchen kann, um sich plötzlich mitten im Diskurs über die unterschiedliche Bedeutung der Perspektive in der westlichen und der islamischen Kultur wiederzufinden. Keine Frage: Als Bezugsgröße, Sparring-Partner und Inspiration ist das historische Erbe hier allgegenwärtig.