Wie weiter nach dem Nichts? 100 Jahre nach Kandinskys Essay „Über das Geistige in der Kunst“

Review > Ingolstadt > Museum für Konkrete Kunst
4. Oktober 2018
Text: Roberta De Righi

Über das Geistige in der Kunst 100 Jahre nach Kandinsky und Malewitsch.
DG – Deutsche Galerie der Gesellschaft für christliche Kunst, München.
Bis 10. November 2018.

www.dg-galerie.de

Über das Geistige in der Kunst 100 Jahre nach Kandinsky und Malewitsch.
MKK – Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt,
bis 10. März 2019.

www.mkk-ingolstadt.de

Wie viel darf man weglassen, wie wenig ist am Ende noch große Kunst? Oder: Wie viel muss man weglassen, damit der Betrachter nicht beim Wink mit dem Zaunpfahl erschlagen wird? „Das Verhüllen des Geis­tes in der Materie ist oft so dicht, dass es im Allgemeinen wenig Menschen gibt, die den Geist hindurchsehen können“, schrieb Wassily Kandinsky 1912. Eine zweigeteilte Schau im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt und in der Galerie der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München bezieht sich auf die Avantgarde der Abstraktion: „Über das Geistige in der Kunst 100 Jahre nach Kandinsky und Malewitsch“ sucht nach der Essenz in der zeitgenössischen Kunst – und nach der Fortsetzung der beiden mit zeitgemäßen Mitteln. Für Kandinsky war es 1912 „die Hand des Künstlers“, welche „die menschliche Seele in Vibration bringt“. Für Malewitsch stellte 1915 sein „schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ den absoluten Nullpunkt dar. Da wurde Transzendenz zum Konzept und die Idee zur geometrischen Form. Was folgte, sind die zwei Hauptrichtungen des Ungegenständlichen: die Farb-Akkorde, Formen, Flecken, Punkte und Linien des Abstrakten Expressionismus und, näher an der Geometrie Suprematismus, Konstruktivismus und Konkrete Kunst.

Im kleineren Part der Schau, in der DG-Galerie in München, spielt Kandinsky als Referenz eine größere Rolle, mit Blickrichtung auf eine religiös fundierte Spiritualität. Da steht man vor Hubert Kiecols „Schrank“: in der Proportion gleicht er einem klassischen Spind, doch seine unregelmäßig offenstehenden Türen lassen sowohl an einen Schrein als auch an Minimal Art denken. Und Edith Dekyndt malt ein schwarzes Rechteck mit Pferdeblut – nach dem Trocknen schwärzer als die Nacht. Das Krakelee der schrundigen Oberfläche wirkt zugleich ikonisch-altertümlich und unheimlich. Viele der Exponate würden in beide Kontexte passen. Etwa die Malerei von Koka Ramishvili, zu sehen in Ingolstadt. Er lässt das Bild Körper werden, malt in altmeisterlicher Technik Verläufe in allen Farben auf blockartige Bildträger, die er an den Orten im Raum anbringt, an denen die Aufmerksamkeit erst mal nicht ist: an den Wänden kurz über Bodennähe. Für Ramishvili ist der Schaffensprozess anders als einst für Kandinsky kein spiritueller Akt des Künstlers als Nach-Schöpfer der „Weltseele“, sondern eine Kombination aus Handwerk und Technik, die aber im Effekt transzendierende Wirkung entfaltet. Auch Raimer Jochims malt Farbverläufe. Wiederum auf Bildträger mit Objektcharakter, aber in freier geformten Konturen. Und hier gehen Farben sphärisch ineinander über, etwa leuchtende Grün- und Blautöne wie in „Ryoan-ji“ oder Lila, Rosa und Weiß in „Entzückung“. So entsteht eine spirituelle, fast sakrale Aura. Doch auch er ist Teil der Schau im MKK. Lienhard von Monkiewitsch wiederum lässt dort das schwarze Quadrat Körper werden – aus Holz oder Beton, verändert aber Umrisse und Material. Die feinen Drahtgespinste von Brigitte Schwacke hingegen sind in Ingolstadt und München zu sehen: In der Galerie der DG hängen drei durchscheinende Rechtecke aus gehäkeltem Draht. In Schaffensprozessen wird auch die Dimension der Zeit sichtbar.

Der Fokus in Ingolstadt liegt indes mehr auf Kandinskys und Malewitschs Interesse an den technischen Neuerungen ihrer Zeit. Unsichtbares wird sichtbar: Jan van Munster baute einen Kühl-Tisch, dessen quadratische Platte die Luftfeuchtigkeit bindet und vereisen lässt. Abends ist das schwarze Quadrat weiß. Julius Stahl versetzt schwarze Quadrate aus Metall und in verschiedener Größe in Schwingung; mittels Sinustönen, die man als Mensch erst einmal gar nicht wahrnimmt. Und Erik Sturm verwandelt Stuttgarter Feinstaub, ein Abfallprodukt der technischen Entwicklung in ein konkretes Objekt. Wie ein verkohltes Blatt Papier, bereit bei Berührung zu zerfallen, sieht die poröse schwarze Schicht auf Weiß aus. Den Blick ins All wirft schließlich das Duo Semiconductor in „Black Rain“: Es zeigt Satellitenbilder, die beim Umkreisen der Sonne entstanden sind. Ein kosmisches Rauschen und Flimmern, dessen Deutung in den Sternen steht. In hundert Jahren verstehen wir hoffentlich noch ein bisschen mehr.