Thomas Struth, Figure Ground: Menschen aus der Perspektive eines Zoologen

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4. September 2017
Text: Roberta De Righi

Thomas Struth: Figure Ground.
Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, München.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 20.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 22.00 Uhr.
Bis 17. September 2017.
www.hausderkunst.de
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Schirmer/Mosel, München 2017, 240 S., 58 Euro | ca. 84.90 Franken.

Er ist derjenige unter den „Struffskys“, der den Menschen am meis­ten zugewandt ist, wenn auch mit der Faszination des Zoologen an einer sonderbaren Spezies. Es ist erstaunlich, wie groß der innere Abstand zwischen Thomas Struth (*1954) und den Figuren in seinen Bildern wirkt. Etwa in „Aquarium, Atlanta“ (2013): Von erhöhtem Standpunkt aus zeigt das Großformat ein Gewusel aus Kindern und Eltern vor einer gigantischen Aquariumsglaswand, die wie ein Gemälde mit bunten Fischen aussieht. Der Fotograf schaut uns beim Schauen zu. Das kann man jetzt in der großen Werkschau im Münchner Haus der Kunst gut beobachten. „Figure Ground“ lautet der Titel der Ausstellung, für die Kurator Thomas Weski dem Künstler auch Teile seines Archivs abluchsen konnte – es bildet darum auch das Herzstück im Hauptsaal der Ausstellung. Darin holte er unter anderem frühe Malerei-Versuche von 1970 ans Licht: Gesichtslose Gestalten, im Bodenlosen schwebend. Schon damals, das zeigen die Archivalien, befasste sich Struth als Fotograf mit dem Menschen im Bezug zu seiner Umgebung, dem Stadtraum, ehe er ihn in der Werkgruppe der „Unbewussten Orte“ verbannte. Und er dokumentierte, ganz akribischer Becher-Schüler, menschenleere Straßen im Ruhrgebiet, aus Kostengründen noch in Schwarzweiß.

Man könnte Struth aber auch als „Beziehungsexperten“ beschreiben. Richtet er doch seinen Blick auf komplexe Beziehungsgefüge. Seit er sich 1982 im Rahmen eines psychoanalytischen Forschungsprojekts mit „Familienleben“ auseinandersetzte, führte er das Thema fort. Er porträtierte seit Mitte der Achtziger Jahre immer wieder Gastgeber und Freunde, 2011 sogar Queen Elizabeth II. samt Prinzgemahl. Andererseits interessiert er sich für die Beziehung zwischen der Kunst und dem Betrachter –  etwa in seiner berühmtesten Foto-Serie der „Museumsbilder“ und in „Audience“, die das staunende Publikum vor Michelangelos „David“ in der Florentiner Accademia in den Fokus nimmt. Falls er sich seiner eigenen Linse ausliefert, dann nur von hinten. In einer halben Rückenansicht wie im „Selbstporträt“ von 2000 vor Dürers Selbstbildnis in der Münchner Alten Pinakothek. Die Kamera – und damit der Betrachter – befindet sich leicht verschoben, aber dicht hinter ihm. Mehr Distanz bei so viel Nähe geht nicht.

Ganz anders verhält es sich mit seinen Natur-Fotografien. Als Struth 1993 Bilder für die Krankenzimmer des Lindberg-Spitals in Winterthur schaffen sollte, kam er nach intensiver Recherche bei den Patienten zu dem Schluss, dass Pflanzen und Blumen in Nahaufnahme die beste visuelle Genesungs-Unterstützung seien. Nebenbei entstanden in der Umgebung Bilder einer Seelenlandschaft, die ebenso unspektakulär wie berückend schön wirkt. Und in der Serie „New Pictures from Paradise“ ist er dann mit der Kamera mittendrin im heilenden Grün, etwa in „Yakushima“ von 1999: Man spürt ein Schwelgen, den sentimentalen Wunsch, einzutauchen in die unfassbare Schönheit der Natur. Hier schauen wir ihm beim Schauen zu.

Nur der kritische Blick mag Thomas Struth nicht so recht gelingen, was aber kein Tort sein muss. Eine im Bau befindliche Ölbohr-Plattform nimmt er mit den großen Augen eines Dinosaurier-Fans wahr. Das gigantische „Kennedy Space Center“ in Cape Canaveral oder das chaotische „Chemistry Fume Cabinet“ der Universität Edinburgh entfalten bei ihm eine erstaunliche Grandezza. Und man würde sich kaum wundern, wenn die Technik-Installationen im Berliner Schaltwerk 1 wie Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ zu tanzen begännen.

Aber die auf einer Reise mit Kollegen nach Israel und ins besetzte Westjordanland 2009 entstandenen Aufnahmen bilden eine augenscheinlich versehrte, tief gespaltene Region unter hohem Siedlungsdruck ab, ohne zu urteilen. So wechselt in der unter „Nature & Politics“ (seit 2007) zusammengefassten Werkgruppe der Standpunkt zwischen Überwältigung und Ratlosigkeit.