Magali Reus, Night Plants: Schluss mit der Patina

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5. September 2017
Text: Annette Hoffmann

Magali Reus: Night Plants.
Kunstmuseum St. Gallen, Museumstr. 32, St. Gallen.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 22. Oktober 2017.
www.kunstmuseumsg.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:JRP | Ringier, Zürich 2017, 144 S., 32 Euro | ca. 39 Franken.

Die Skulpturen von Magali Reus (*1981) verlangen einiges an Selbstkontrolle. Denn eigentlich möchte der Betrachter hier nicht Betrachter bleiben. In der Ausstellung „Fit for purpose“ im Kunsthaus Glarus installierte sie 2015 an den Wänden eine Reihe von gepolsterten Klappsitzen in fröhlichem Farbwechselspiel und als komfortablere Varianten von U-Bahn-Sitzschalen. Doch Reus stülpte ihnen nicht nur transparente Plastikbezüge über oder fixierte sie mit Gurten, sondern tarierte ihr Gleichgewicht zudem mit Stecken aus. Die Serie „Parking“ bot sich nicht für eine kurze Auszeit vom Ausstellungsparcours an, sie nahm selbst Urlaub von ihrem eigentlichen Zweck und Führte so den Titel der Gruppenschau einwandfrei ad absurdum.

Ihre Einzelausstellung im Kunstmuseum St. Gallen „Night Plants“ spricht einen ganz ähnlichen, bislang unbekannten Impuls an. Zu gerne würde man sich auf diese sattelähnlichen Gebilde schwingen. Doch nicht nur hält das Metallgestänge gerade einmal die Schichten verschiedenen Materials aus, eine Skulptur ist eben auch etwas, um das man herumgehen kann und keinesfalls etwas, auf das man sich setzt, auch wenn man doch wirklich gerne die unterschiedlichen Oberflächen spüren würde. Und umrunden lassen sich diese sechs Sattelobjekte, die in einer Saalflucht des Kunstmuseum St. Gallen arrangiert wurden. Reus schuf sie 2016 für diese Ausstellung, die eine Kooperation mit dem Stedelijk Museum Amsterdam ist, wo sie bereits vor einem Jahr gezeigt wurde. Drei reliefartige weiße Boxen, die an Utensilos erinnern, sind an der Wand befes­tigt und komplettieren diese Präsentation. Während die sattelähnlich geschwungenen Objekte geradezu unberührt aussehen und kein bisschen Patina aufweisen, ist der Look dieser Sets rauer.

Die niederländische Künstlerin hat in London am Goldsmiths College studiert und gehört  unter anderem mit Alice Channer und Helen Marten einer Londoner Künstlergeneration an, die sich mit Oberflächen befasst und, wie aus diesen doch Volumen und Körper werden können. In der neuen Werkserie von Magali Reus geschieht dies durch eine immense Schichtung verschiedener Materialien. Bei „Arbroath Smokie“ – der Titel bezieht sich auf einen Räucherfisch aus dem gleichnamigen schottischen Städtchen – ist dies vor allem Leder; Reißverschlüsse sind eingearbeitet, Metallnieten ergeben wiederum eine ganz andere Optik. Prints von Urlaubsschnappschüssen sind auf die Oberflächen gedruckt, eine Montageanleitung sowie eine Westernszene sind eingeprägt. „Propeller E.K.“ hinterlässt einen technischeren Eindruck, doch auch hier mixt Magali Reus Täschnerhandwerk mit Funktionsstoffen, deren Eigenschaften letztlich auch eine Frage des Oberflächenfinishs sind. Geflochtene Lederstücke und Schnüre aus Leder liegen auf oder hängen herab, oft finden sich kleinere Etuis und Futterale. Überhaupt beginnt man diese Objekte als Protagonisten mit eigenständigen Charakteren zu begreifen. Magali Reus‘ Skulpturen mögen dysfunktional sein, doch auf eine sehr ambivalente Weise spielen sie mit dem Körper. Nicht allein mit dem des Betrachters, sondern auch mit romantischen Vorstellungen von Cowboys, die durch Funktionsmaterialien aus dem Campingbedarf upgedated und verfremdet werden. Zwischen die Natur und den Menschen haben sich heute noch ganz andere Häute als Leder gelegt.

Der Aberwitz ihrer Arbeiten, so erzählt Reus in einem Gespräch, das im Katalog abgedruckt ist, bestehe in der Vorstellung einer architektonischen Konstruktion sowie dem physischen Objekt und seinem Gebrauch. Das klingt nach dem Verhältnis zwischen Form und Sinn, doch ist dieses bei Magali Reus durch die Reflexion gegangen, dass wir heute einen Teil der Wirklichkeit virtuell erleben. Sie überträgt das Schichten verschiedener Oberflächen und die Bildschirmästhetik auf haptische Materialien, die sie übereinanderlegt, montiert und verschnürt. Die Aufladung der handwerklichen Verarbeitung des Leders verträgt sich dabei mit derjenigen von Hightechmaterialien. Der Schliff ist der Fetisch.