Vivan Sundaram: Das Memento mori als Konzeptkunst

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4. August 2018
Text: Roberta De Righi

Vivian Sundaram: Umbrüche.
Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, München.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 20.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 22.00 Uhr.
Bis 7. Oktober 2018.

www.hausderkunst.de

Echtes soziales Gewissen ist in der Kunst selten, bei Vivan Sundaram ist das Nachdenken über gesellschaftliche Ungerechtigkeit elementar. Der indische Künstler (*1943) macht in seinem Werk die Existenz derer sichtbar, die am untersten Ende der sozialen Hierarchien stehen. Jetzt zeigt das Münchner Haus der Kunst seine sehenswerte Retrospektive „Umbrüche“. Der Titel könnte auch für die Situation des Hauses selbst stehen: Der Direktorenposten ist seit Okwui Enwezors gesundheitsbedingtem Rücktritt vakant, die Reihen der Mitarbeiter gelichtet, die Sanierung des maroden einstigen NS-Tempels durch das Architekturbüro des Briten David Chipperfield beschlossen, aber was Umfang, Kosten, Termin und ästhetisches Konzept betrifft, derzeit ungeklärt.

Für Vivan Sundaram waren die Studentenproteste Ende der 1960er Jahr ebenso prägend wie die Kolonialismus-Kritik seiner Generation. Der Neffe der bekannten Malerin Amrita Sher-Gil studierte in Indien Kunst und ging anschließend 1966 nach London, wo er bei R. B. Kitaj weiter lernte. Er begann ebenfalls als Maler, doch nach seiner Rückkehr nach Indien 1970 wurde er dort zu einem Pionier der Installationskunst, der bald alle Gattungen und Medien mit einbezog. Er verarbeitete Einflüsse der Pop Art, des Minimalismus und der Arte Povera und setzte sich intensiv mit indischen Vorbildern auseinander. Etwa mit dem als Vorreiter der Moderne geltenden Ramkinkar Baji, der mit den in Indien geltenden Kunstkonventionen brach und Kleinbauern und Nomaden darstellte. Dessen Zementplastik im Außenraum, „Ruf zu Mühle“ von 1956, inspirierte Sundaram 2015 zu einer Neufassung aus Altmetall und Schrott – in der zwei Frauenfiguren im Zentrum stehen. Sie bildet zusammen mit der Filmprojektion „Die kurze Himmelfahrt des Marian Hussein” den Auftakt zur Münchner Ausstellung. Darin lässt Sundaram einen Müllsammler, in Indiens brutalem Kastensystem ein Angehöriger der „Unberührbaren“, und fast ein Junge noch, von einem Bett aus Abfall in den Himmel fahren. In der Serie „Trash“ werden dann Strukturen aus geordnetem Müll zu menschenleeren Dystopien en miniature. Die Unmengen an Wohlstands-Abfällen, die die ärmsten Länder der Welt fluten, sind auch ein Sinnbild für die himmelschreiende Ungerechtigkeit des globalisierten Kapitalismus.

Zwei raumfüllende Installationen erzählen von bitterer Armut und den schwärenden ethnischen und religiösen Konflikten Indiens. Die „12 Betten Station“ ist quasi ein „Denkmal des unbekannten Lumpensammlers“: 12 rostige Betten aus Metall in kaltem Licht. Am Ende des Schlafsaales steht ein leerer Stuhl, stellvertretend für eine höhere Macht und zugleich Sinnbild der Überwachung. Zwischen den Sprungfedern aus Metall sind gebrauchte Schuhsohlen aus Gummi eingearbeitet, wie sie von den Lumpensammlern aufgehoben werden – die sich selbst aber gar keine Schuhe leisten können. Die physische Realität des Materials sorgt für Beklemmung und macht kollektives menschliches Schicksal spürbar. Das „Memorial“ wiederum nimmt die reale Fotografie eines auf der Straße liegenden Toten zum Ausgangspunkt. Er war einer der etwa 900 Toten, die 1992/93 bei Ausschreitungen nach der Zerstörung einer Moschee durch radikale Hindus aus dem rechten Lager ermordet wurden. Ursache war der sogenannte Ayodhya-Streit um das Grundstück der Moschee, das den Hindus als Geburtsort des Rama gilt und nach der Eroberung durch die muslimischen Timuriden 1527 überbaut worden war.

Für Sundaram wurde das Bild des toten Mannes vor einem ramponierten Betonblock, aus dem ein Stahlträger ragt, ikonisch. Er zeigt es mehrfach an den Wänden, stets anders bearbeitet als Collage. Und als zentrale Plastik unter einer Art Glaspyramide des Raumes in Lebensgröße. Vivan Sundarams konzeptuelles Memento mori wirkt monumental, jedoch ohne Pathos; nicht religiös, aber sakral. Und die Aussage hat sich noch nicht überlebt: Dieses Mahnmal macht auch sichtbar, wie die wiederholte politische Instrumentalisierung religiöse Konflikte niemals zur Ruhe kommen lässt.