Rendezvous der Träume – Surrealismus und deutsche Romantik.
Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, Hamburg.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 12. Oktober 2025.
Katalog bei Hatje Cantz, Berlin 2025, 344 S., 45 Euro.
[— artline>Nord] Wie real ist das, was Nachrichten und Freunde berichten? Leben vielleicht alle zwischen Traum und Albtraum in verschiedenen Welten? Und seit wann prägen individuell erträumte Momente die Kunst und die Kultur? Die herausragende Ausstellung „Rendezvous der Träume“ in der Hamburger Kunsthalle führt anlässlich des 100. Geburtstags des surrealistischen Manifests von André Breton den Surrealismus und die deutsche Romantik zusammen. Annabelle Görgen-Lammers hat über die bekannten Referenzen Bretons auf romantische Dichter wie Novalis hinaus zahlreiche überraschende und verborgene Bezüge zwischen den beiden bedeutenden Epochen und Stilen gefunden und eine in der Materialfülle überwältigende Ausstellung kuratiert.
Ikonisch gewordene Gemälde, Zeichnungen und Objekte, Dokumente und Videos erschließen sich in einem ausführlichen Rundgang durch die ganze Kunsthalle: 230 Arbeiten von 65 Surrealistinnen und Surrealisten wie Meret Oppenheim, René Magritte, André Masson, Dorothea Tanning, Paul Klee, Valentine Hugo, Victor Brauner, Toyen und anderen – viele davon in erstmaliger Zusammenarbeit mit dem Centre Georges Pompidou aus Paris entliehen – begegnen 70 Werken der deutschen Romantik. Bekannte Visionen wie die wütende Kriegsallegorie „Der Hausengel“ von Max Ernst (sonst in Köln), die „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs“ von Salvador Dalí (sonst in Philadelphia, USA) oder der „Hund, den Mond anbellend“ von Miró (ebenfalls aus Philadelphia) sind seltenerweise hier im Original zu sehen. Und vor dem eigenen Bestand der Kunsthalle kommen Spekulationen auf, ob der „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich vielleicht nicht auf ein wolkenverhangenes Tal schaut, sondern – freudianisch-surrealistisch interpretiert – auf die verdrängten Regionen seiner romantisch-nervösen Psyche. Dazu werden einige Hamburgensien erinnert: Max Ernst erhielt 1964 den höchsten Hamburger Kulturpreis – und nach dem Besuch der Kunsthalle fanden Bilder von Philipp Otto Runge ein Echo in einigen seiner Arbeiten. Auch war sein surrealistisches Freundschaftsbild „Au rendez-vous des amis“ lange Jahre im Besitz einer Hamburger Sammlerfamilie, bevor es ans Museum Ludwig in Köln verkauft wurde. Bemerkenswert auch das von Anabelle Görgen-Lammers enträtselte Bild von Giorgio de Chirico in der Hamburger Sammlung: Es ist eine Fälschung des Surrealisten Oscar Dominguez aus den 1940er Jahren. Die im von den Deutschen besetzten Paris im Untergrund verbliebenen Surrealisten fütterten den weiter florierenden Kunstmarkt mit Kopien und finanzierten so auch die Résistance.
Die Darstellung der Augen spielt bei einer Bewegung, die stets zur Veränderung und Erweiterung des Blicks nach außen und nach innen aufruft, eine wichtige Rolle. Im Kurzfilm „Un Chien Andalou“, den Buñuel und Dalí 1929 realisierten, ist der Rasiermesserschnitt durch das Auge noch immer eine der schärfsten Provokationen der Filmgeschichte. Surrealismus und Romantik treffen sich in der strikten Individualisierung der Wahrnehmung bis zum möglichst ungefilterten Ausdruck der verborgenen psychischen Prozesse und fordern die Poetisierung der Welt. Dabei können die vielzitierten Träume auch politisch und, besonders in kriegerischen Zeiten, keineswegs rosafarben sein – so wie „romantisch“ oft verstanden wird. Die geöffnete Tür zur Nachtseite des Geistes führt auch zu heftigen Begierden, drückenden Ängsten und Überlagerungen der Eindrücke an der Grenze des Wahns.
Locker in 15 Kapiteln sortiert, führt diese unbedingt zu empfehlende Ausstellung, ob als kunsthistorische Entdeckung oder individuelles Erlebnis, auch zu den Drohungen dunkler Wälder, den Abgründen sexueller Verstrickungen und schließlich zur überwältigenden Unfassbarkeit des bestirnmten Universums: Die Kraft der Kunst kann vieles, was hinter der Oberfläche der Realität liegt, fassen, vermitteln, beschwören und bannen.




