Evidenz. Die Gegenwart zeichnen.
Musée Tomi Ungerer, 2 Av. de la Marseillaise, Strasbourg.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 13.00 und 14.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 28. September 2025.
musees.strasbourg.eu
Vor dem Musée Tomi Ungerer in Strasbourg gibt es eine Haltestelle mit Blick auf die Villa Greiner, in der das Internationale Zentrum für Illustration untergebracht ist. An der Fassade sind drei fenstergroß reproduzierte Zeichnungen von Nino Bulling plakatiert: Eine Person mit Rollkoffer, ein Stillleben mit Wäscheständer und Zimmerpflanze in wohnlicher Unordnung, die Umarmung zweier Menschen auf dem Trottoir. Hier, im Treiben des Verkehrs, wirken sie wie die mit wenigen Strichen skizzierte Verlängerung der Wirklichkeit auf Papier – Ausschnitte einer „Reportage“ im Wortsinn des Zurücktragens von Eindrücken und Beobachtungen in die Realität der Bilder. Beiläufiger und sinnfälliger kann eine Ausstellung kaum starten, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich Gegenwart erfassen lässt „in einer Zeit, in der jeder Tag von Gewalt, globalen Umbrüchen und dem Verfall politischer Strukturen geprägt ist“. Kuratorin Anna Sailer hat dazu vier Kunstschaffende eingeladen, die in ihren Arbeiten auf unterschiedlichen Wegen den Spuren des Politischen in die Intimität des Alltagslebens folgen. Im Zentrum steht nicht das tagespolitische Geschehen, sondern die stille Nervosität, die die Kriege und Krisen der Gegenwart produzieren, Zweifel, Unsicherheit, Widerstandsgeist – oder die Sehnsucht nach Nähe, wie auf Nino Bullings wandfüllender Seidenmalerei „A break“. Entspannt chillen dort zwei Personen auf dem Boden, während rotes Licht das Bild von unten flutet wie der Widerschein einer völlig überhitzten Welt. Die Klimaerwärmung, auf die sich diese für die documenta 15 entstandene Arbeit bezog, wurde inzwischen längst von anderen Krisen aus den Schlagzeilen verdrängt. Man könnte darin eine bittere Ironie sehen. Oder die besondere Eigenschaft der Zeichnung, Erinnerung zu speichern, indem scheinbar Vergangenes in der Spontanität des Strichs gegenwärtig bleibt.
Das trifft auch auf Neïla Czermak Ichtis Porträt einer jungen Frau zu, die mit dem Handy am Ohr in einem kargen Raum steht, den Blick ins Nichts gerichtet, als würde sie nicht merken, dass sie bis zur Brust im Wasser steht. Der Titel: „Hallo, ja, es passieren seltsame Dinge, ruft mich zurück“. Mit lakonischem Witz bringt Ichti die Gleichzeitigkeit von Katastrophe und Alltag auf den Punkt, die sie in ihren jüngeren Arbeiten durch einen an Horrorfilm-Ästhetiken geschulten Stil ins Dystopische wendet. Ganz im Hier und Jetzt verwurzelt sind dagegen die Zeichnungen von Mazen Kerbaj. Der in Berlin lebende Künstler wurde 2006 mit seinem Buch „Beirut“ über den Libanonkrieg international bekannt und experimentiert seit langem mit unterschiedlichen Tagebuch-Routinen. Mal verpflichtet er sich, pro Tag eine Zeichnung anzufertigen und dabei jeweils die Technik zu wechseln, mal sammelt er die besten aus Tausenden von Post-its, die in seinem Alltag so anfallen, und sortiert sie monatlich zu grellbunten, strengen Collagen aus flüchtigen Randnotizen. Beginnt man, diese Zettel zu entziffern, drängt sich nach und nach der Verdacht auf, dass es am Ende doch die Nebensächlichkeiten sein könnten, die das sichere Fundament unseres Lebens bilden und uns ermöglichen, den Unwägbarkeiten der krisenhaften Gegenwart ohne Panik zu begegnen. Auch die libanesische Künstlerin Mounira Al Solh arbeitet in Serien. In Strasbourg wollte sie ursprünglich vor allem jüngere Arbeiten aus ihrem Projekt „I strongly believe in our right to be frivolous“ zeigen. Seit 2011 dokumentiert sie darin die Geschichten von syrischen und palästinensischen Geflüchteten im Libanon. Entstanden ist so eine Art gezeichnetes Alltagsarchiv der niedergeschlagenen Revolution in zahllosen Porträts, die von Verlust und Entwurzelung erzählen, aber auch von Humor und Eigensinn. Nach dem Sturz des syrischen Diktators Assad im Dezember 2024 entschied sich Al Solh, diese Serie durch eine Reihe von aufwendig gearbeiteten Stoffbannern zu ergänzen, auf die sie mit der Nähmaschine gezeichnete Porträts arabischsprachiger Frauenrechtsaktivistinnen wie Azza Soliman, May Ziade und Fatima Mernissi stickte. In der unübersichtlichen Gegenwart nach dem politischen Umbruch in Syrien ist die Mut machende Kraft einer solchen Hommage an Feministinnen im Nahen Osten kaum zu unterschätzen.



