200 Jahre Gegenwart. Der Kunstverein und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gegenwart: Wer emanzipiert sich denn da?

Württembergischer Kunstverein Kirchenbauer
Vika Kirchenbauer, Compassion and Inconvenience, 2024, Courtesy: Vika Kirchenbauer / VG Bild-Kunst
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21. Juli 2025
Text: Anne Abelein

200 Jahre Gegenwart. Konstellation 2: Der Kunstverein und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gesellschaft.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 3. August 2025.
www.wkv-stuttgart.de

Württembergischer Kunstverein TTT
Daniel García Andújar, Cancel Culture, 2023–2025, Courtesy, Daniel García Andújar
Württembergischer Kunstverein Douglas
Stan Douglas, Courtroom, 2007, © Stan Douglas
Württembergischer Kunstverein Suntag
NOH Suntag, Deer, 2008 Fotografie Courtesy: NOH Suntag

2027 feiert der Württembergische Kunstverein (WKV) sein 200-Jahr-Jubiläum. Im Rahmen einer vierteiligen Ausstellung mit einem offenen Forschungsprozess über zwei Jahre hinweg geht der WKV den drei Gründungsideen nach: dem Bürger als Souverän, der Freiheit der Kunst und der Nationenbildung. Historische und zeitgenössische Künstler setzen sich mit diesen Ideen auseinander. Die Ausstellungen fungieren zugleich als Archiv und Werkstatt für die kommenden Präsentationen.

Betritt man die Schau, ist man mit einer roten Filterwand konfrontiert, und genau die Blickfilter und ungelösten Probleme der Gesellschaft stehen auch im Mittelpunkt des Interesses der aktuellen Ausstellung. So trat das typische Gründungsmitglied des WKV zwar für Freiheit und Unabhängigkeit vom Hofe ein, war aber ausschließlich weiß und männlich. Einen historischen Überblick über das Personengeflecht der Gründer kann man sich auf Tableaus verschaffen. Da wären etwa der einflussreiche Verleger Johann Friedrich Cotta (1764-1832) oder der Kaufmann, Bankdirektor und Kunstdilettant Gottlob Heinrich Rapp (1761-1832). 

Den neuen Typus des Bildungs- und Besitzbürgers zieht die Scherenschnitt-Künstlerin Luise Duttenhofer (1776-1826) durch den Kakao, wenn sie zeigt, wie Gottlob Heinrich Rapp in winziger Gestalt dem großen Goethe mit Kerzenständer vorangeht. Rapp betrieb einen von mehreren literarischen Salons in Stuttgart. Die Duttenhoferin wollte eigentlich Künstlerin werden, musste sich aber aufgrund der Geschlechterklischees auf den Scherenschnitt beschränken. Die Goethe-Verehrung und sein Verhältnis zu Frauen thematisiert auch die Hamburger Künstlerin Anna Oppermann (1940-1993) mit ihren Fotoemulsionen von Anfang der 1980er. In ihren prozesshaften Arbeiten entwirft sie beziehungsreiche bühnenartige Ensembles mit Presseausrissen, Bildschnipseln und Polaroids. Mit ihrem Entwurf für den WKV bewarb sie sich für die documenta. Zum Zug kam dann ein Mann.

Ebenfalls nicht präsent in der bürgerlichen Bildungswelt: die Perspektive und die Kunst von People of Color, denn die Handelsmänner und Bankvertreter unter den WKV-Gründern profitierten vom Kolonialismus. Das alte Bild der Kunstgeschichte von 1890 bis 1935, das auf linearem Weg zur Abstrakten Kunst führt, konterkariert der Amerikaner Hank Willis Thomas (*1976) in einem chaotisch anmutenden Diagramm von 2019, in der er die Verflechtungen zwischen moderner Kunst, Kapitalismus und Kolonialismus offenlegt und um antikoloniale Projekte ergänzt. Mit einer bewusst kaum sichtbaren Wandgravur weist die brasilianische Künstlerin Lídia Chaves auf die Kolonialausstellung 1928 in der Stuttgarter Gewerbehalle hin.

Lückenhaft ist die Geschichtsschreibung der WKV-Gründer auch, was Juden angeht. Die Bankiersfamilie Kaulla – mit Beziehungen zu Gottlob Heinrich Rapp – und Eduard Pfeiffer (1835-1921) – der den sozialen Wohnungsbau vorantrieb – setzt die Stuttgarter Künstlerin Mina Gampel (*1940) in Acryl-Porträts wieder in ihr Recht. Archivmaterial des WKVs hat Daniel García Andújar (*1966) geschickt genutzt, der KI-Bilder von historischen Bauten und Revolten gegen Monumente kombinierte und dabei die Voreingenommenheit des Algorithmus thematisiert. Von widerständigen Momenten kann im WKV in den ersten 120 Jahren nur bedingt die Rede sein: Er entwickelte sich eher mit den restaurativen Tendenzen, wie die Schau unterstreicht.

Wie Antisemitismus und Faschismus später den ganzen urbanen Alltag ergriffen, zeigt der Stuttgarter Künstler Walter Renz (1908-1998) in sachlichen und empathischen Fotografien der Vor- und Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, etwa auf dem Volksfest. Da kann man an einem Postkartenstand inmitten von Kätzchen- und Mädchenmotiven Porträts von Hitler, Göring und Goebbels erwerben. Renz dokumentiert auch Spuren des Antisemitismus und später der Besatzungsmächte. Der WKV ordnete sich in der NS-Zeit unter und systemkonforme Ausstellungen. Erst die gut vernetzte Alice Widensohler (1898-1969) führte als neue Leiterin ab 1946 den WKV an die Moderne heran, so bezeugt es eine Wand mit Ausstellungsplakaten.