Lenora de Barros, To See Aloud: Im Körper der Sprache

Leonora de Barros
Lenora de Barros, To See Aloud, Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2025, Foto: Felix Grünschloß
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19. April 2025
Text: Ilja Zaharov

Lenora de Barros: To See Aloud.
Badischer Kunstverein, Waldstr. 3, Karlsruhe.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 19.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 15. Juni 2025.
www.badischer-kunstverein.de

Leonora de Barros
Lenora de Barros, To See Aloud, Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2025, Foto: Felix Grünschloß
Leonora de Barros
Lenora de Barros, No País da Língua Grande, Dai Carne a Quem Quer Carne, 1998/2006, Foto: Carolina Godefroid

„No País da Língua Grande, Dai Carne a Quem Quer Carne“ – ein wahrer Zungenbrecher für alle, die des Portugiesischen nicht mächtig sind. Doch genau dieses sprachliche Gedränge bildet den roten Faden von Lenora de Barros’ Retrospektive im Badischen Kunstverein. Hierzulande ist die 1953 in São Paulo, Brasilien, geborene und lebende Dichterin und Künstlerin weniger bekannt – sicherlich auch wegen der sprachlichen Hürde. Ausgerechnet in einer Kunstwelt, die sich längst an englischsprachige Beschriftungen gewöhnt hat, wirken ihre konsequent portugiesischen Wandgedichte wie ein Akt des Widerstands, ein Moment des Aufrüttelns und der Kompromisslosigkeit. Und eine Aufforderung, sich aktiv mit der Sprache auseinanderzusetzen – sei es durch das Hören, Erraten oder die mühsame Suche nach Übersetzungen im Saaltext. So entsteht eine bewusste Verzögerung im Verständnis, die den Blick auf die Materialität der Sprache lenkt. Und das ist auch, was sich hier der Übersetzung entzieht: die klangliche, körperliche Dimension ihrer Sprache. De Barros’ Poesie wird nicht nur gelesen, sondern mit Zunge, Mund und Atem gespürt, denn der Großteil ihrer Kunst ist nun mal in den klanglichen Eigenheiten ihrer Muttersprache verankert.

Es lohnt sich, die Scheu vor den Kopfhörern abzulegen und sich auf die Soundperformances einzulassen. Andernfalls wird man wohl oder übel lernen müssen, mit den schmatzenden Lauten, die schon beim Betreten des Gebäudes zu hören sind, auszukommen. Sie stammen von jener Videoperformance, deren Titel den einleitenden Zungenbrecher bildet, übersetzt in etwa: „Im Land der großen Zunge, gib Fleisch denen, die Fleisch wollen“. Das Video zeigt eine Nahaufnahme des Mundes der Künstlerin, während sich ihre Zunge über Zähne und Lippen kräuselt – ohne jemals Wörter zu formen. Das Geräusch begleitet einen durch die Ausstellung. Denn es lässt sich kaum ignorieren, wie die Bewegung von Fleisch und Speichel zu einer unbehaglichen akustischen Einheit verschmelzen.

Es ist vor allem das portugiesische Wort „língua”, das de Barros’ Werk präzise fasst: Es bedeutet sowohl „Zunge“ als auch „Sprache“ und verbindet das Körperliche mit dem Zeichenhaften. Ihr Werk hebt hervor, dass Sprache nie rein abstrakt bleiben kann, sondern sich materialisieren muss. Diese Einsicht verdankt de Barros nicht zuletzt der Generation vor ihr, der Konkreten Poesie Lateinamerikas und der Konzeptkunst, deren Strategien sie sich in ihrem lakonisch betitelten Schlüsselwerk „Poema” (1979) zunutze macht. Erneut steht hier die Zunge wortwörtlich als zentrales Werkzeug der Sprache im Fokus. Eigentlich wollte sie ein Gedicht über die Geburt eines Gedichts schreiben – doch die Worte blieben ironischerweise aus. Eingenickt vor der Schreibmaschine, träumte sie, wie ihre Zunge aus ihrem Mund fiel und sich zwischen den Hebeln verfing. Nach dem Erwachen inszenierte sie diesen Traum als Fotoserie. In dieser vertikalen Bildersequenz sehen wir, wie sie mit den Lippen eine Schreibmaschinentastatur leckt, sich in ihr Inneres vorwagt, bis schließlich die Typenhebel auf ihrer Zunge aufschlagen. Im letzten Bild scheint die Maschine sie ganz verschlungen zu haben. Es hat ihr wortwörtlich die Sprache (língua) verschlagen.

Etwas ähnliches geschieht auch in „Mínimo Som Mínimo” (dt. „minimale Lautstärke“, 1983/1994), wobei erfahrbar wird, wie sich Bedeutung im Klang und in der visuellen Struktur von Sprache auflösen kann. De Barros wiederholt den Titel in variierenden Intonationen, die sich durch einen Delay-Effekt überlagern – ein akustisches Labyrinth, das sich in der Ausstellung auch räumlich widerspiegelt. Die unteren Wandhälften leuchten in Gelb, angelehnt an den Einband ihres Künstler*innenbuchs „Onde se vê”. Wer jedoch genauer hinsieht, erkennt im gelben Streifenmuster „Mínimo Som” in Endlosschleife. Klang und Schrift geraten gleichermaßen ins Flimmern – ein Spiel der Sinne, in dem wir zwischen den Zeilen wandern und im Zucken der Zunge den Halt verlieren.