Modell Neutralität: Schutzschild oder Feigenblatt?

Modell Neutralität
Mîrkan Deniz, Untitled (Out of place), 2023, und Masa, 2015, Courtesy the artist, © Mîrkan Deniz, Fotos David Aebi, Burgdorf
Review > Aarau > Aargauer Kunsthaus
28. März 2025
Text: Ilja Zaharov

Modell Neutralität.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz 1, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag bis 20.00 Uhr.
Bis 11. Mai 2025.
www.aargauerkunsthaus.ch
Katalog: Scheidegger & Spiess, Zürich 2025, 272 S., 36 Euro | ca. 39 CHF.

Modell Neutralität
Thomas Hirschhorn, Wirtschaftslandschaft Davos, 2001, Courtesy Aargauer Kunsthaus, Aarau, © 2025, ProLitteris, Zürich, Foto: David Aebi, Burgdorf
Modell Neutralität
Guido Nussbaum, Schweizer Welt 1, 1995, Courtesy the artist, © Guido Nussbaum, Foto: ullmann.photography
Modell Neutralität
Guerreiro do Divino Amor, Le Miracle d’Helvetia, 2022, Collection Fonds CAC Genève, © Guerreiro do Divino Amor, Foto: David Aebi, Burgdorf

Direkt am Eingang der Schau zieht eine deckenhohe, stark vergrößerte Fotografie den Blick auf sich. Eine Erdkugel, sanft gebettet in edlen Samt – so stellt sich Guido Nussbaum (*1948) unseren Planeten vor. Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Die ausschnitthafte Landmasse wirkt fremd und entspricht nicht der eingeprägten Ordnung unserer Weltkarte. Um Nussbaums Welt auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, das reproduzierte Motiv ein paar Meter weiter zu betrachten – jenen kleinen, handbemalten Globus hinter Glas. Spätestens dort wird deutlich: Auf diesem Planeten brandet der Ozean direkt an die Grenzen der Schweiz, Heimatland des Künstlers. Seine Arbeit spielt mit der weltpolitischen Sonderstellung der Schweiz und ihrer scheinbaren Unantastbarkeit.

Die Schweiz erscheint wie eine Insel, auf der der Grundsatz der Neutralität an vorderster Stelle steht – ein Prinzip, das das Land zu einem wirtschaftlich starken und wohlhabenden Staat gemacht hat. Aber was bedeutet Neutralität wirklich, wenn ihr vermeintlicher Erfolg darauf beruht, Aggressor und Opfer gleichzusetzen? Ist es nicht ein doppeltes Spiel, in dem missliche Lagen letztlich zum wirtschaftlichen Vorteil der Schweiz genutzt werden? Fragen wie diese stehen im Zentrum der Gruppenschau im Aargauer Kunsthaus, die verschiedene Aspekte – oder Modelle – dieses Prinzips beleuchtet. Dem Paradox der Neutralität widmet sich exemplarisch Mîrkan Deniz (*1990) in ihrer seit 2016 fortlaufenden Arbeit „Masa“. Der mit rotem Samt bezogene Tisch ist eine Replik jenes Möbels, an dem 1923 der Vertrag von Lausanne unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag, der bis heute Grenzen in Vorderasien festlegt, führte zur Aufteilung eines kurdischen Nationalstaates in Gebiete der Türkei, des Iraks, Irans und Syriens. Überraschenderweise wurde das Original 2008 als Geste der Freundschaft dem türkischen Präsidenten überreicht, während der ehemalige Schweizer Bundespräsident Pascal Couchepin, der dies veranlasst hatte, den Tisch in einem Begleitbrief als „normal“ beschrieb und betonte, dass daran kein besonderes Interesse bestanden habe. Dennoch fügte er hinzu: „Für die Türkei hat der Tisch jedoch eine große historische Bedeutung“. Diese Geste hatte einen widersprüchlichen Beigeschmack.

In „Masa” dreht Deniz den Spieß nun um: Unvermittelt erscheint die Künstlerin mit ihrem Faksimile-Tisch in jenen Hallen, in denen einst ihre eigene Staatenlosigkeit besiegelt wurde – Deniz’ Vita verzeichnet als Nationalität: staatenlos. Nachdem das Geschenk nach vorzeitiger Annahme zurückgegeben wurde, wandte sich die Künstlerin dem Teppich zu, auf dem einst der Tisch stand. Eine künstlerische Interpretation in tiefem Schwarz findet sich ebenfalls in der Schau. Der schwere Faltenwurf soll uns gedanklich zum Stolpern bringen. Überlange, tentakelartige Fransen – edel und doch monströs – winden sich am Boden entlang, als wollten sie uns in ihre Verstrickungen hineinziehen oder noch eher uns daran erinnern, dass wir schon immer Teil dieses Netzes waren. Die Künstlerin stellt die Frage in den Raum: Was hat die Schweiz historisch zu verantworten, wenn sie sich als neutraler diplomatischer Grund anbietet?

Diese Frage findet auch in Thomas Hirschhorns (*1957) Installation „Wirtschaftslandschaft Davos“ von 2001 Resonanz. Wie eine überdimensionierte Modelleisenbahnlandschaft aus Karton, Schaumstoff und Klebeband erstreckt sie sich über fast 400 Quadratmeter als Materialisierung einer maßlosen Kinderfantasie, als Kriege noch mit Soldatenfiguren inszeniert wurden. Doch die verstreuten Miniatursoldaten, Panzer und Helikopter verweisen auf reale Polizei- und Militäreinsätze, die das Weltwirtschaftsforum in Davos absicherten. Hirschhorn hat diesen Wandel miterlebt: vom beschaulichen Kurort zur Hochsicherheitszone für globale Entscheidungsträger. Seine Arbeit zeigt eine Schweizer Neutralität, die nicht passiv bleibt, sondern sich aktiv absichert: eine bewaffnete Neutralität. Am Ende ist es genau diese Spannung, die der Schau ihre überzeugende Kraft verleiht.