Franz Gertsch: Blow Up.
Deichtorhallen – Halle für aktuelle Kunst, Deichtorstr. 1-2, Hamburg.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 4. Mai 2025.
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
Louisiana MoMA Publications, Humlebæk 2025, 168 S., 39 Euro.
[—artline Nord] Die Groß-Gemälde und -Drucke von Franz Gertsch (1930-2022), aktuell zu sehen in den Hamburger Deichtorhallen, überwältigen den Blick frontal und mit voller Breitseite. Nach frühen, anonymisierten Schablonen-Gestalten in reduzierter Pop-Art-Anmutung von Ende der 1960er-Jahre zu Beginn der Schau tauchen die Besucher:innen ein in die 1970er- bis frühe 1980er-Ära des Schweizer Künstlers: türkisblauer Lidschatten, Schlangenleder-Stiefel, bunter Strick, Gesichter, von langen Haaren verhängt oder von wallenden Frisuren gerahmt – eine Zeitgeistgemengelage, wo Post-Hippie-Counter-Culture auf die Coolness der Züricher Demimonde und subkulturelle Ausschweifungen trifft. Dazu Familienbildnisse, Einzel- und Gruppenportraits, in denen die repräsentierten Personen so nahe rücken, dass sie fast zur Abstraktion werden und dabei zugleich den Klang von Gesprächen, Musik, Naturgeräuschen wachrufen. Spätere Waldstücke spielen den Wandel der Jahreszeiten durch, feinste Verästelungen, filigranes Blattwerk, Holzschnitte in wandfüllenden Formaten. Zuletzt Meeresbrandung, nunmehr menschenlos: das, was bleibt, wenn sich der Strand geleert hat, Wellenrauschen und Licht aus unsichtbarer Quelle, das sich in den schäumenden Wogen verfängt.
Die Gertsch-Retrospektive mit dem Titel „Blow-up“ umfasst 60 Jahre Schaffenszeit und wurde vom Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk, Dänemark, noch gemeinsam mit dem Künstler zusammengestellt. Sie birgt im Plakativen der dargestellten Hyperrealitäten die Überraschung des atmosphärischen, formalen und inhaltlichen Nuancenreichtums. Nach und nach geben die raumgreifenden Tableaus ihre tiefer liegenden, leiseren Schichten zu erkennen: Geheimnisse, die sich im Anschein demonstrativer Direktheit verstecken. Entsprechend überschneiden sich in den überlebensgroßen Figuren und Figurationen Spektakel und Stille, Ereignishaftigkeit und Erhabenheit, pralles Leben und die darin immer mitschwingende Vergänglichkeit des Seins. Gertsch fing mit seinen meist auf eigenen fotografischen Vorlagen basierenden Bildern die jeweiligen Stimmungslagen der ihn umgebenden Kunst- und Jugendszenen ein. Doch scherte er mit seiner wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe aus den herrschenden ästhetischen Trends von abstrakt-expressiver und wilder Malerei bis Conceptual Art aus und blieb in dieser Hinsicht durchweg autark.
Die Eingebung, Welt und Wirklichkeit veristisch darzustellen, hatte der Künstler auf einer Bergwanderung im Tessin 1969. Einen wesentlichen Impuls gab ihm auch die Close-up-Erkundung der Wirklichkeit und ihrer Mysterien an der schillernden Marge zwischen Lüge und Wahrheit in Michelangelo Antonionis Thriller „Blow-up“ (1966), der ihn tief bewegte. Formal beschäftigte er sich eingehend mit Protagonisten der europäischen Kunstgeschichte wie Dürer oder dem Vedutenmaler Canaletto. Seinem künstlerischen Durchbruch als Mitwirkender der documenta 5 1972 folgte die erste Teilnahme an der Venedig-Biennale 1978. Von 1986 bis 1994 gab Gertsch die Malerei vorübergehend auf und schuf die ersten flächendeckenden Holzschnitte: herangezoomte Naturstücke, die im Ausschnitt detailliert über das größere Ganze Auskunft geben. In der Hamburger Ausstellung teils in abgedunkeltem Raum zu sehen, entfalten sie eine magische Aura und wirken bisweilen beinah dreidimensional. Dürers „großes Rasenstück“ (1503) kommt einem bei deren Betrachtung ebenso in den Sinn wie Gertschs nächtliches Frühwerk „Bach im Mondschein“ (1956). Spätestens angesichts der monochromen, blauen Landschaften und Pflanzenportraits seiner letzten Schaffensphase zeigt sich, dass der Künstler nicht zuletzt auch ein Forschender war, der den Erscheinungen gleichermaßen auf der Spur war wie der Essenz der Dinge. In seinen detailgenauen Darstellungen offenbart sich letztere nachhaltig im Vorübergehen.