Elfriede Lohse-Wächtler: Ich als Irrwisch.
Ernst Barlach Haus, Jenischpark, Baron-Voght-Straße 50A, Hamburg.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 9. Februar 2025.
www.barlach-haus.de
[— artline Nord] Wacher Blick aus Augen, die zugleich nach innen und nach außen zu schauen scheinen, zwischen langen Fingern eine Zigarette, der Hand fast zugehörig. Die Selbstbildnisse von Elfriede Lohse-Wächtler geben die verschiedenen Gesichter einer Frau zu erkennen, die sich, ihrer Zeit und den Orten ihres Seins auf der Spur war: Hamburger Alltagslandschaften zwischen Hafen, Kaffeehaus und Wochenmarkt durchschreitend, ausschweifende Nächte in der Halbwelt St. Paulis festhaltend, in Wartesälen ausharrend, aus dem prallen Leben schöpfend, liebend, verzweifelnd, beobachtend, teilnehmend, ganz da. Das Ernst Barlach Haus in Hamburg widmet der Künstlerin zum 125. Geburtstag eine mitreißende und berührende Hommage, die die fulminante Fülle ihres Werks feiert und dessen große Kraft jenseits allzu enger biografischer Rahmungen greifbar macht. 1899 in Dresden geboren, stößt die heute als bedeutende Vertreterin der Klassischen Moderne geltende Malerin dort zunächst als „Nikolaus Wächtler“ früh zum Kreis um Otto Dix, Conrad Felixmüller und anderen Kolleg:innen, zu dem auch der Maler und Sänger Karl Lohse, ihr zukünftiger Ehemann, gehört.
Die Ausstellung konzentriert sich auf die Jahre intensiver kreativer Energie um 1930, die sich in einer Vielzahl von Werken niederschlägt und Lohse-Wächtler auch öffentliche Anerkennung bringt. Aufgefächert ist die Übersicht in zehn Kapitel, die bei eindringlichen Selbstporträts und Bildern des der Künstlerin nahestehenden jüngeren Bruders beginnt und die ineinandergreifenden Themengruppen: Warteräume, Patientinnen, Paare, Alltag, Hafen, St. Pauli, Typen und (alb-)traumartig-visionäre Erscheinungen umfasst. Wie Ernst-Barlach-Haus-Direktor Karsten Müller in seiner einfühlsamen Einführung treffend schreibt, lässt sich die Selbstbezeichnung Lohse-Wächtlers als „Irrwisch“ als Ausdruck einer „künstlerischen Haltung“ verstehen, die ungeheure „Produktivität […] mit einem ruhelos durch Hamburg streifenden Motivhunger und bemerkenswerter stilistischer Flexibilität“ verknüpft. In der Schau, der ersten umfassenden in Hamburg seit der Präsentation 1999 zum 100. Geburtstag von Elfriede Lohse-Wächtler im Altonaer Museum, wird bewusst der Fokus auf deren Werk gerichtet. Die tragische Geschichte der 1940 nach Zwangshospitalisierung als Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde („Aktion T4“) in Pirna getöteten Künstlerin schwingt darin fraglos mit. Und doch steht im Zentrum die leidenschaftliche „Zwiebelfeuerfresserkunst“ der Malerin, die sich mutig und selbstbewusst aus sämtlichen Kategorisierungen befreite und nun in ihrer innovativen ästhetischen Verve und Vielfalt (wieder-)entdeckt werden kann.