„Sea and Fog“. Auf den Spuren der Zerstörung von Freude und Leben

Yael Bartana, Entartete Kunst Lebt, 2010, Copyright the artist and courtesy of Annet Gelink Gallery Amsterdam and Sommer Contemporary Art Tel Aviv
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20. Dezember 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Sea and Fog.
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtentaler Allee 8a, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 26. Januar 2025.
www.kunsthalle-baden-baden.de

Etel Adnan, Ohne Titel, 2012, Courtesy of the artists estate and Sfeir Semler Gallery Beirut Hamburg
Shilpa Gupta, Altered Inheritances – 100 (Last Name) Stories, 2014, Copyright and courtesy of the artist, Foto: Ela Bialkowska, OKNO Studio
Ouassila Arras, deplacements, 2019, Copyright the artist and FRAC Champagne-Ardenne, Foto: Martin Argyroglo
Mariam Ghani, There is a Hole in the World Where You Used to Be, 2024, Copyright and courtesy the artist and Ryan Lee Gallery New York
Kateryna Lysovenko, Internally displaced person, 2023, Copyright and courtesy the artist

Wenn sich morgens mit den ersten Sonnenstrahlen an der Küste Seenebel über dem Meer bildet, fließen am Horizont für einen kurzen Moment Himmel und Erde ineinander. Die 2021 verstorbene Schriftstellerin und Künstlerin Etal Adnan hat diesem Phänomen des Übergangs 1989 ein Gedicht gewidmet: „Morgen. Weite. Verschwommenheit. Nebel hat alles in völliges Grau gehüllt“, heißt es in „Sea and Fog“, „Das währt fort. Zweifel braut sich über dem Geist zusammen. Abwesenheit ist schwerer zu ertragen als der Tod“. Zehn Jahre zuvor hatte Adnan den Libanon und ihre Geburtsstadt Beirut für immer verlassen müssen, aufgrund von Todesdrohungen nach der Veröffentlichung ihres Romans „Sitt Marie-Rose“, in dem sie Humanität als Akt des Widerstands gegen Unversöhnlichkeit und Verhärtung feierte.

Adnans Gedicht leiht nun einer sehenswerten Gruppenschau in der Kunsthalle Baden-Baden den Titel und sei zugleich ihr „emotionaler Kompass“, wie die Kurator*innen Çağla Ilk, Sandeep Sodhi und Misal Adnan Yıldız in der Begleitbroschüre schreiben. Angesichts der Allgegenwart von Kriegen und Krisen wolle die Schau „den Zustand gelebter und empfundener Ohnmacht überwinden, um Räume für Trost, Verständnis und Solidarität zu öffnen“. Was auf dem Papier etwas pathetisch klingt, erweist sich im Ausstellungsraum als vielstimmige Reflexion über das Echo der Gewalt zweier Weltkriege des 20. Jahrhunderts in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Realität der Gegenwart.

Yael Bartana, die zuletzt den Deutschen Pavillon an der Venedig Biennale bespielte, lässt in einer martialischen Animation hier gleich zum Auftakt Otto Dix’ „Kriegskrüppel“ von 1920 in eine Zukunft marschieren, die Gesundheit und Stärke, aber keine Empathie kennt. Krieg und Terror als treibende Kräfte des technologischen Fortschritts, der auch die Medien umfasst, untersucht der Australier Marco Fusinato. Seine großformatigen Siebdrucke aus der Serie „Desastres“ zeigen selbstgebaute Waffen, stechende Moskitos oder Dreck am Straßenrand. Sie stammen aus einem riesigen Bilderfundus der kleinen und großen Katastrophen und dienen Fusinato in der Regel als Partitur für introvertierte Noise-Gewitter, die er an der E-Gitarre entfesselt. In Baden-Baden bleiben sie stumm und nehmen stattdessen den Dialog auf zu Arbeiten wie Shilpa Guptas berührender Serie „Alterated Inheritances“. In hundert horizontal halbierten, untereinander vertauschten Fotografien erzählt sie hier die Geschichten von Menschen, die aufgrund von Verfolgung oder Diskriminierung ihre Namen ändern mussten.

Exemplarisch für die immer neuen Grenzen, vor denen Flüchtende vor Hunger und Krieg stehen, hat die algerische Künstlerin Ouassila Arras in Baden-Baden eine Mauer in den Oberlichtsaal gebaut. Die Steine sind mit Henna gefärbt – im Maghreb ein Zeichen der Gastfreundschaft – und die Fugen gespickt mit Plas­tiktüten, die wie die Hinterlassenschaften zahlloser Durchreisender wirken. Seit 2019 an unterschiedlichen Orten im Auf- und Abbau, ist Arras’ „Déplacement“ inzwischen selbst eine Arbeit im Zustand ständiger Migration.

Wie stark der Verlust von Orten und Menschen die Wahrnehmung verzerren kann, steht im Zentrum von Mariam Ghanis Videogedicht „There’s a Hole in the World Where You Used to Be“. Die Zeilen wechseln hier mit quecksilbrigen Luft- und Landschaftsaufnahmen aus Gaza, durch die kreisförmige Linienbündel rotieren wie Schwarze Löcher. Tief gebeugt von der Gravitation der Trauer hängen unweit davon Käthe Kollwitz’ „Die Mütter“ und „Die Eltern“ sowie einige Blätter aus Otto Dix’ bis heute verstörendem Zyklus „Der Krieg“. Flankiert werden sie von einem gestrandeten Delfin, Symbol der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, der – wie aus Etel Adnans metaphorischem Seenebel aufgetaucht – auf einem Gemälde von Kateryna Lysovenko erschöpft im Sand liegt. In zarten Pastelltönen und mit lockerem Strich skizziert die in Berlin lebende Ukrainerin hier wie in einem Traum die Zerstörung der Freude, des Lebens und der Natur durch den Krieg.