Lorenz Wernli

Lorenz Wernli, Cosmic Latte 2024, You Can Break an Egg With a Rock, Ausstellungsansicht, Kunsthaus Baselland, 2024, Courtesy the artist, Foto: Adriana Brantuas
Porträt
19. Dezember 2024
Text: Maya Oehlen

Lorenz Wernli.

Regionale 25. Bonimentheureuses.
La Kunsthalle, 16, rue de la Fonderie, Mulhouse.
Dienstag 15.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch bis Freitag 12.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 14.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 5. Januar 2025

www.kunsthallemulhouse.com
www.regionale.org
lorenzwernli.com

Lorenz Wernli, Cosmic Latte, 2024, linkes Panel, Courtesy the artist, Foto: Adriana Brantuas
Lorenz Wernli, Cosmic Latte, 2024, Detail rechtes Panel, Courtesy the artist, Foto: Lorenz Wernli
Lorenz Wernli, Cross-legged On a Narrow Bed, Shoot the Messenger & Trouble With the Seal, 2024, Ausstellungsansicht La Kunsthalle Mulhouse, Regionale 25: Bonimentheureuses, Courtesy La Kunsthalle Mulhouse, Foto: Emily Vialay
Lorenz Wernli, Cross-legged On a Narrow Bed, 2024, Courtesy the artist, Foto: Lorenz Wernli
Lorenz Wernli, Shoot the Messanger & Trouble With the Seal, 2024, Courtesy the artist, Foto: Lorenz Wernli

Im Atelier von Lorenz Wernli (*1997 in Bern) ist es kühl. Zumindest jetzt im Winter, auch wegen der großen Fensterfront. Vom fünften Stock des Industriegebäudes in Kleinbasel aus blickt man auf den Badischen Bahnhof. Im nebligen Dezember wirkt die Gleiseinöde beinahe postapokalyptisch. Im Hintergrund die Skyline von Basel – Großstadtromantik vom Feinsten. Ein Hund, in einen Pullover von Fendi gekleidet, kommt vom benachbarten Atelier herüber und lässt sich streicheln. Alles ergibt hier Sinn: Das ist zweifelsohne ein Ort, an dem man Kunst macht.

Nach dem Bachelor 2022 an der Genfer HEAD hat Wernli vor kurzem seinen Master an der HGK Basel gemacht. An der Wand in seinem Studio hängen gerade zwei Aluminium-Panels. Auf ihnen kleben lose verteilt Papierfetzen, Plastikblumen, Bronzegussreste. Beiges Malertape, abgerissen und nicht geschnitten, befestigt die Objekte auf der glatten Oberfläche. Auf einem Tisch im Studio befindet sich ein Sammelsurium an Objekten: Münzen, Plastikpuppenfüße, eine Porzellantasse. Einige Dinge sind kaputt, andere glänzen, von manchen gibt es ganz viele. Sie stammen aus unterschiedlichen Kontexten, wurden von Wernli gefunden, ihm geschenkt, von ihm selbst gemacht, angepasst oder verfälscht. Sein Interesse gilt der materiellen Welt, zu der er Zugang hat, und jenen Dingen, die das Potenzial haben, weiterverwertet zu werden.

Lorenz Wernli weiss, wie schnell Dinge ihre Daseinsberechtigung verlieren. Defekte Objekte, abgenutzte Gegenstände, Sachen, die aus der Mode geraten sind, landen im Müll, werden auf die Straße gestellt, entsorgt, verstoßen, vergessen. Die Auswahl an Objekten, die Wernli in sein Atelier bringt, folgt einem eigenen Wertesystem. Viele hat er vom Boden aufgehoben. Die Suche danach beeinflusst also auch die Art, wie er sich in der Stadt bewegt. Die meisten Menschen richten ihren Blick beim Gehen auf die Welt in Augenhöhe. Lorenz Wernli schaut auf der Suche nach Dingen auch nach oben oder zu Boden, wo vor allem Zigarettenkippen herumliegen und andere Dinge, die er als „gewöhnlichen Müll“ bezeichnet. Es sollen nicht ausschließlich die Eye-Catcher sein, die es in seine Arbeit schaffen. Mit der Entscheidung, welche Dinge er verwendet, betreibt er also eine gezielte Manipulation der Realität: seine Auswahl ist keine direkte Spiegelung dessen, was da ist. Zugleich aber geht es ihm nicht um eine verfälschende Dokumentation des Materialbestandes im öffentlichen Raum.

Sein Verfahren bei der Objektsuche, der Auswahl und der Komposition folgt weder der Oberflächenqualität noch dem Objekttypus. Wernli verfährt hier nach Gefühl. Sein Arbeitsprozess ist intuitiv, und genau dieses Intuitive, das unbewusste Handeln, versucht er in seinen Arbeiten widerzuspiegeln. So finden in einem Wandobjekt Krawatte, Frischhaltefolie, Porzellan, Plastik-Ei und Kronenkorken zusammen. In einer anderen sind auf glänzender Aluminiumoberfläche Schnipsel von abgerissenen Plakaten aus dem öffentlichen Raum zu sehen. Sie lassen an eine mit Plakaten dick eingekleidete Litfaßsäule denken, als müsste sie mit den übereinandergeschichteten Papierlagen warmgehalten werden. Auf Wernlis Aluobildträger hängen die Schnispel neben Bronzegussresten, die er außerhalb der Metallwerkstatt fand, flach getrampelt oder platt gefahren, so dass sie auf dem Boden klebten „wie Kaugummi“. Daneben sind bunte Plastikblumen verteilt und ein gefundenes Schwarzweiß-Foto. Die „wertlosen“ Objekte auf dem polierten Aluminiumpanel erzeugen Spannung. Hier vereinen sich Gegensätze: Müll und Glanz, handwerkliche Arbeit und Readymades, Fläche und Dreidimensionalität. Zugleich geht es Lorenz Wernli im Arbeitsprozess darum, eine Balance zwischen diesen Pole zu finden. Ein Arrangement, das weder einem konkreten Konzept folgt noch dem blinden Entgegennehmen von allem, was da ist, sondern auf einem einem intuitiven Auswahl- und Kompositionsverfahren beruht. Intuition sei ein Werkzeug, das man trainieren könne, sagt er und bezieht sich dabei auf die schwedische Kunsttheoretikerin Gertrud Sandqvist: „Intuition ist die Ansammlung von Erfahrungen, die nicht unmittelbar zugänglich für Sprache sind, aber unser Bewusstsein beeinflussen.“ [1] Einen logsichen „Sinn“ oder inhaltlichen Zusammenhang in Wernlis Kompositionen finden zu wollen, ist zwecklos. Die Arbeiten wollen nicht formal interpretiert werden, aber sie erwecken Assoziationen, Erinnerungen oder persönliche Anekdoten.

Diese Herangehensweise beschränkt nicht nur auf seine skulpturalen Arbeiten, sondern prägt Wernlis Fotografie. Auch hier steht nicht die scharfe, richtig belichtete, perfekte Aufnahme im Fokus, sondern der Prozess des Sammelns, das Einrahmen und Festhalten der materiellen Welt. Die Komik und die Poesie, das Unverständliche, Mysteriöse oder Schräge kann auch auf wenigen dpi festgehalten werden. Es ist ein Spiel mit Hierarchien und Wertesystemen, mit der Enthierarchisierung und Entwertung. Die Kamera wid hier Mittel zum Zweck für die Darstellung des Unverständlichen, Ungefähren, von Zuständen des Dazwischenseins, des Wartens, von Situationen, in denen vielleicht etwas passiert ist, passieren wird oder passieren könnte.

Abgesehen von eigenen Fotografien und der Verwendung von gefundenen Fotos spielt die Fotografie als Medium bei Wernli auch in einer jüngeren Werkreihe eine zentrale Rolle. Die mintfarbenen Polyurethanplatten werden zur Bühne für Wernlis Auseinandersetzung mit Fragen des Bildes und der Materialität. Polyurethan, ein Material, das in der Architektur und im Ingenieurwesen verwendet wird, um Modelle oder mechanische Teile herzustellen, eignet sich aufgrund seiner Leichtigkeit und Dichte für exakte Arbeiten. Lorenz Wernli nutzt Filmstills, gefundene oder selbst aufgenommene Bilder für diese Werkreihe, die sich mit Formen des Erinnerns auseinandersetzt: eigenen, kollektiven oder medial vermittelten Erinnerungen, die nicht aus der eigenen Erfahrung stammen, aber zu persönlichen Erinnerungen werden können. Für den Druck werden die Bilder auf maximal 16 Schwarz-Weiß-Töne reduziert, was ihre Lesbarkeit erschwert. Diese Abstrahierung eröffnet einen Raum für die eigene Erinnerung, für eigenes Weiterdenken. Wernli hat nicht viel übrig für statische Zustände, was ihn interessiert, ist die Flexibilität der Dinge, sind ihre Kippmomente. Filmstills werden zu Erinnerungen, Fotos zu dreidimensionalen Flächen, Polyurethan zum Kunst-Stoff der kollektiven Erinnerung.

Neben dem Bild und der Materialität ist die Sprache ein dritter Bezugspunkt des künstlerischen Schaffens von Wernli. Schon die Titel seiner Arbeiten verraten eine Freude an Klang, Witz, Widerspruch und Poesie. „Don’t pick up the spoon with the fork“. „Shoot the Messenger“. „If it’s Dirty Work, borrow the Tools“. Sie stammen aus Texten oder Textfragmenten, die Lorenz zufällig fand oder die er selbst geschrieben hat: Eigene Gedanken, Fragmente aus Gesprächen, lustige Wörter, Wortaneinanderreihungen. Die Titel können Verweise auf das Werk enthalten oder eine bestimmte Lesart ermutigen. Oft lässt sich das Verhältnis zwischen Werk und Titel auch als „Partnersuche“ verstehen, wie er sagt. Beide existieren bereits und werden dann wie in einer Komposition richtig miteinander kombiniert. Existiert der Titel schon vor dem Werk, liefert er oft die Inspiration für die neue Arbeit.

Derzeit lehnt in Wernlis Studio ein verpacktes Panel an der Wand. Aus der Verpackung steht der Titel: „Cosmic Latte“. Es ist der Name einer Farbe – etwa des allgegenwärtigen Malertapes, das auf den Panels einerseits als Befestigungsmittel verwendet wird, zugleich aber auch Bildgegenstand ist. Der Name der Farbe geht auf eine Umfrage am Lehrstuhl für Astronomie an der Johns Hopkins University in Baltimore zurück, an der ein Team das Licht sämtlicher Galaxien im Universum einfing, das auf die Erde zurückreflektiert wird. Das Beige, das dabei als Durchschnitslichtfarbe herauskam, wurde von den Forschenden „Cosmic Latte“ getauft. Für Wernli hat dieser Name seine eigene Poesie. Er steht für die Sehnsucht, das Unendliche und Undenkbare auf einen einzelnen, begreifbaren und sehr banalen Aspekt herunterzubrechen – die Farbe des Weltalls im Kaffeebecher.

Der permanente Drang, Dingen einen neuen Wert zu geben, Sachen zu suchen, zu finden, zu verwenden, sich anzueignen und Wernlis Freude an Poesie, Humor und dem Mysterium des Alltags scheinen sich in jedem seiner Werke zu wiederfinden. Seine Herangehensweise ist in einem übergeordneten Sinn spielerisch, verbindet Pragmatismus und Exaktheit mit Ungenauigkeit und Gefühl, ist mechanisch oder intuitiv oder beides zugleich.

Momentan arbeitet Lorenz Wernli an zwei Aluminium-Panels. „Weil die da schon lange hängen“. Und weil er sie „mal aus dem Weg haben will“. Danach möchte er lieber wieder Sachen machen, die nicht an der Wand hängen. An einer Wand des Atelierraums stapeln sich größere Plastikklappboxen. Momentan bieten sie ihm Stauraum, aber er würde auch gerne mit ihnen arbeiten, sie modifizieren oder in einem anderen Kontext verwenden. Kurz: Er möchte ein anderes, ein neues Potenzial aus ihnen herausholen.

[1] Gertrud Sandqvist, On Intuition, 1995, in: http://www.kaapeli.fi/~roos/gertrude.htm

Dieser Text entstand im Rahmen des Hauptseminars „Kunstkritik: Zeitgenössische Kunst zum Sprechen bringen“ im WS 2024/25 am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg.