Melanie Siegel

Melanie Siegel, Die Runde (#3), 2021, 120 x 190 cm, Acryl und Öl auf Leinwand, Foto: Thomas Lomberg
Porträt
19. Dezember 2024
Text: Chiara Jelinek

Regionale 25. Heim:suchen.
Delphi_Space, Brombergstr. 17c, Freiburg.
Freitag bis Samstag 17.00 bis 20.00 Uhr, Sonntag 15.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 5. Januar 2025.

delphi-space.com
melanie-siegel.de

Melanie Siegel, Hausring, 2023, 120 x 150cm, Acryl und Öl auf Leinwand, Foto: Thomas Lomberg
Melanie Siegel, Poollandschaft, 2023, 150 x 120 cm, Foto: Thomas Lomberg

Gemalt hat Melanie Siegel schon immer gerne. Nach ihrer Ausbildung als Bühnenmalerin und -plastikerin begann sie 2008 mit einem Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Karin Kneffel, deren Meisterschülerin sie wird. Sieben Jahre später schließt sie mit dem Diplom ab. Ihre Malerei, die menschenleere Szenarien zeigt, untersucht, wie der Mensch die Natur formt, kontrolliert und sich zugleich von ihr entfremdet. Sie bietet keine konkreten Antworten, sondern lädt die Betrachtenden dazu ein, selbst über Ordnung und Harmonie, domestizierende Eingriffe und die gestörte Balance nachzudenken.

Melanie Siegel, die 1978 in Freiburg geboren wurde, sieht den Menschen als integralen Teil der Natur, jedoch als einen, der rücksichtslos in sie eingreift. Ihre Werke thematisieren, wie die natürliche Ordnung durch menschliche Eingriffe verändert wird. Die kontrastreiche Darstellung zwischen vom Menschen geschaffener Ordnung und ungezähmter Wildnis unterstreicht die Ambivalenz dieser Beziehung. Penibel gepflegte Hecken und geometrisch gestaltete Landschaften symbolisieren die menschliche Sehnsucht nach Kontrolle und Perfektion, während die Natur sich ihren Raum zurückerobert und das vermeintlich Geordnete infrage stellt. In diesen Konstellationen bewegt Siegel sich zwischen Utopie und Dystopie: Sie zeigt scheinbar perfekte Lebensräume, die bei näherer Betrachtung Verunsicherung hervorrufen und Fragen nach dem Umgang mit unserer Umwelt stellen. Ihre Werke laden zur kritischen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Einfluss auf die Umwelt ein, denn bedeuten Ordnung und Kontrolle tatsächlich Fortschritt oder führen sie zu einer Entfremdung vom ursprünglichen Wesen der Natur?

Eine der markantesten Eigenschaft ihrer Arbeiten ist die bewusste Abwesenheit von Menschen, während ihr Einfluss klar dargestellt wird. Urbane Objekte wie Parkbänke, akkurat platzierte Pflanzen oder andere Spuren menschlicher Präsenz erzählen von Eingriffen in die Umwelt, ohne den Eingreifenden sichtbar zu machen. Dadurch bleibt die narrative Ebene ausgespart, und es entsteht ein offener Raum für individuelle Interpretationen. Sobald eine Figur ins Spiel kommt, wird eine Handlung suggeriert, eine Geschichte vorgegeben. Dies möchte Melanie Siegel vermeiden. Stattdessen schafft sie offene Bildräume, in denen die Betrachtenden alleine gelassen werden und sich selbst positionieren müssen. Verlassene Orte wirken befremdlich, manchmal bedrohlich, und erzeugen ein Spannungsverhältnis zwischen Ruhe und Unruhe. Die Szenerien lassen erahnen, dass der Mensch zwar präsent ist, sei es durch eine eben eingetretene Abwesenheit oder eine bevorstehende Ankunft, er aber nie konkret in Erscheinung tritt – ein Moment, der sowohl Trost als auch Unbehagen auslösen kann. Die Betrachtenden werden so zu aktiven Teilnehmenden: Sie sind eingeladen, sich in die Leere dieser Orte hineinzuversetzen und eigene Geschichten zu erschaffen und haben die Möglichkeit, sowohl über die menschliche Präsenz als auch über deren Konsequenzen für die Umwelt nachzudenken.

Melanie Siegel schöpft ihre Inspiration aus der Alltäglichkeit ebenso wie aus der Distanz zu ihr. Motive, die sie zum Beispiel während Fahrradfahrten in ihrer unmittelbaren Umgebung in München entdeckt, oder Eindrücke aus Satellitenbildern, dienen als Ausgangspunkt für ihre künstlerische Arbeit. Diese real existierenden Elemente transportiert sie im Malprozess in eine fiktionale Welt. Ihre Bilder sind keine Dokumentationen, sondern komponierte Szenarien aus der eigenen Imagination. Ihren kreativen Prozess beginnt sie mit Skizzen oder Collagen, die als erste Grundlage dienen. Perspektiven werden verschoben, Architektur und Vegetation neu arrangiert, Licht und Schatten inszeniert. Das endgültige Motiv entsteht erst im Verlauf des Malprozesses auf der Leinwand. Es ist ein schrittweises Herausarbeiten des Bildes, bei dem der kreative Fluss oft neue Ideen für weitere Arbeiten oder Variationen inspiriert, wodurch verschiedene Serien entstehen.

Seit 2018 spielt die Vogelperspektive eine zentrale Rolle in Melanie Siegels Arbeiten. Dadurch werden die dargestellten Orte abstrakter und sonderbarer. In der Draufsicht stellt sie die Kontrolle des Menschen über die Natur besonders eindrucksvoll dar. Außerdem sind ihre Werke im Laufe der Jahre immer präziser geworden. Einige ihrer Werke sind so exakt gemalt, dass man im ersten Moment denkt, eine Fotografie zu sehen. Erst beim näheren Betrachten kann man die einzelnen Pinselstriche erkennen.

Melanie Siegel versteht ihre Kunst nicht als belehrend, sondern als Einladung zur individuellen Auseinandersetzung. Ihre bewusst offenen Bildwelten bieten Raum für persönliche Interpretationen, in denen Betrachtende ihre eigenen Geschichten entdecken können. Dieser Ansatz spiegelt ihren Wunsch wider, Emotionen und Gedanken anzustoßen, ohne dabei eine festgelegte Botschaft zu vermitteln. Ihr Ziel ist es, dass ihre Werke etwas im Betrachter auslösen, sei es auf einer emotionalen oder intellektuellen Ebene.

In ihrem Werk „Hausring“ (2023) spielt Melanie Siegel mit der Spannung zwischen Architektur und Natur und schafft das faszinierende Bild eines mächtigen, ringförmigen Gebäudes, das in ähnlicher Form zwar real existiert, dessen Architektur in Siegels Interpretation aber überzogen dargestellt und in einen neuen Kontext gesetzt wurde. Der fiktionale Ort, inspiriert durch ein auf Google Earth entdecktes Gebäude inmitten einer Großstadt, zeigt einen großen Klotz umgeben von unberührter Natur und auch der Innenhof trägt paradiesische Züge. Das Gebäude könnte theoretisch ein ganzes Dorf beherbergen. Diese Diskrepanz zwischen Potenzial und tatsächlicher Nutzung lässt den Menschen inmitten so gewaltiger Architektur winzig wirken. Die Natur, die das Gebäude umgibt, verstärkt das Spannungsfeld zwischen menschlichen Eingriffen und der wilden, unbeeinflussten Welt. In dieser Konstellation wird der Mensch immer wieder als indirekt präsent gezeigt: Klein und unwichtig neben den gewaltigen Dimensionen des Hauses.

Melanie Siegels Werk „Die Runde #3“ aus dem Jahr 2021, das derzeit im Rahmen der Regionale 25 im Freiburger Delphi_Space zu sehen ist, stellt ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für ihre Fähigkeit dar, Realität und Fiktion zu verbinden und eine tiefere Bedeutung zu erzeugen. Die halbkreisförmige Parkbank, die sie in München entdeckt hat, wird in eine neu arrangierte Landschaft gesetzt. Die Bank steht im Vordergrund, während ein von Licht durchschimmerter Forst den Hintergrund bildet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der strukturierten, menschlich geschaffenen Form und der natürlichen Umgebung erzeugt eine besondere Atmosphäre. Entstanden während der Corona-Pandemie, spiegelt das Werk die Leere und Stille dieser Zeit wider. Die Parkbank, die normalerweise ein Symbol für Gemeinschaft und Austausch wäre, wirkt hier wie ein Relikt, das auf die Abwesenheit des sozialen Lebens hinweist. Diese Diskrepanz wirft Fragen auf: Ruft das Bild ein Gefühl von friedlicher Ruhe hervor, das durch die Abwesenheit von Menschen betont wird, oder wird es von einer beunruhigenden Einsamkeit überschattet? Das Werk lädt Betrachtende ein, ihre eigenen Empfindungen in der dargestellten Szene zu suchen und über die Veränderungen im sozialen Miteinander nachzudenken, die diese besondere Zeit geprägt haben.

Melanie Siegel gestaltet mit subtiler Ästhetik und präziser Technik Räume, die weit über das Sichtbare hinausgehen. Ihre Arbeiten sind stille Reflexionen über den Umgang des Menschen mit der Natur – eindringlich, poetisch und stets kritisch. Sie fordert uns auf, innezuhalten: Welche Welt haben wir uns gebaut, und welche wollen wir in Zukunft gestalten?

Dieser Text entstand im Rahmen des Hauptseminars „Kunstkritik: Zeitgenössische Kunst zum Sprechen bringen“ im WS 2024/25 am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg.