Sertaç Özdemir.
Regionale 25. And if we stand still long enough.
Kunstverein Freiburg, Dreisamstr. 21, Freiburg.
Mittwoch bis Freitag 15.00 bis 19.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 5. Januar 2025
Sertaç Özdemir (*1996 in Tübingen) schafft mit seinen Arbeiten Erfahrungsräume, in denen Textilien, Körper und Raum miteinander verschmelzen. Seine Performances, Installationen, Video- und Soundarbeiten fordern die Betrachtenden heraus, über Grenzen, Identität und kulturelle Prägungen nachzudenken. Dabei verbindet Özdemir persönliche Erfahrungen, mythologische Motive und gesellschaftspolitische Themen mit einer intensiven Auseinandersetzung mit Materialität und Form.
An der Leinwand interessiert ihn so nicht zuerst ihre Funktion als Maluntergrund, sondern vor allem das Potenzial des Stoffes selbst, seine Oberflächenstruktur und Lebendigkeit. Glänzende Textilien, Kunstleder oder reflektierende Materialien werden nicht nur als Träger, sondern als zentrale Akteure seiner Kunst eingesetzt. Häufig werden verschiedene Stoffe zusammengenäht und ausgestopft, was ihnen eine Körperlichkeit verleiht – weich, greifbar und oft voller Ambivalenz.
Ein frühes Beispiel dafür ist die Arbeit „Life of their own“ (2021), in der ein Stoffobjekt nicht nur Teil einer Rauminstallation, sondern auch Protagonist einer Videoarbeit wird. Das Objekt verändert sich je nach äußeren Bedingungen – wird es zum Beispiel nass, wirkt es wie ein lebloser Körper, der von einer Performerin durch die Landschaft geschleppt wird, und eröffnet so neue emotionale Lesarten.
Die Installation „Border“, aktuell im Rahmen der Regionale 25 im Kunstverein Freiburg zu sehen, ist ein Highlight in Özdemirs Œuvre. Hierbei widmet sich der Künstler einem der zentralen Themen unserer Zeit: dem Konzept der Grenze, physisch, emotional und gesellschaftlich. Die Arbeit besteht aus Textilien, Füllwatte, Stahlketten und Haken. Durch den gezielten Einsatz der Materialien gelingt es Özdemir, die Mehrdeutigkeit und Komplexität von Grenzen auf eindringliche Weise sichtbar zu machen. Die Arbeit, ein Zaun aus Textilien, markiert einen Bereich, bleibt einladend und abweisend zugleich. Flexibel montiert und von einem dünnen Seil getragen, kann die Konstruktion jederzeit ihre Balance verlieren. Anwesende dürfen die Arbeit anfassen, hineingehen und sie sogar umarmen. „Ich wollte, dass Kunst für die Besuchende nahbar wird“, erklärt Özdemir.
Die Ausstellung trägt den Titel “And If We Still Stand Long Enough”, das Thema – Ohnmacht und Überforderung – spiegelt sich in der Fragilität der Installation wider. Sie lädt dazu ein, Grenzen körperlich zu erfahren, ihre Ambivalenz zu spüren und die eigene Beziehung zu ihnen zu hinterfragen.
Der Stoff, weich und nachgiebig, wird durch das Füllmaterial stabilisiert, während Stahlketten und Haken dem Werk eine Schwere und Härte verleihen. Diese Gegensätze schaffen eine spannungsreiche Atmosphäre: Der Stoff kann als Symbol für Verletzlichkeit und Schutz interpretiert werden, während die Stahlketten Trennung, Einschränkung oder Kontrolle suggerieren. Die Komposition verweist auf die Spannung zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und der Realität von Isolation. „Border“ wird so zu einer Metapher für menschliche Bedürfnisse und Ängste, die durch Grenzen sowohl befriedigt als auch verstärkt werden können. Eine weiche, stoffliche Fragilität und die starre Unnachgiebigkeit der Ketten werfen Fragen über die tatsächliche Funktion von Grenzen auf. Sind sie Schutzräume, die Gemeinschaften bewahren? Oder Barrieren, die uns daran hindern, einander zu begegnen? Die Installation hält keine einfache Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Grenzen parat, sondern eröffnet einen Denkraum, um die vielschichtigen Bedeutungen von Barrieren zu hinterfragen.
Özdemirs kultureller Hintergrund fließt immer wieder in seine Arbeiten ein. In „Shah Maran“ (2023) greift er die Geschichte einer mythischen Figur auf, die in der türkisch-kurdischen Folklore tief verwurzelt ist. Der Künstler recherchiert sorgfältig, interpretiert die Geschichte jedoch auf seine Weise, verknüpft sie mit seiner eigenen Identität und spielt so bewusst mit kulturellen Klischees.
Seine jüngste Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Figur der Köçeks. Diese waren junge Männer im Osmanischen Reich des 17.-19. Jahrhunderts, die sich als Frauen kleideten und durch Tanz gesellschaftliche Normen in einem streng patriachialischen und konservativen Umfeld unterliefen, um so ihre Homosexualität frei ausleben zu dürfen. Dieses Spannungsfeld zwischen Tradition, gesellschaftlicher Akzeptanz und subtiler Rebellion gegen normative Geschlechterrollen dient Özdemir als Inspirationsquelle. Er nutzt diese historische Praxis als Ausgangspunkt für ein Kunstwerk, das Vergangenheit und Gegenwart verbindet und eine eindringliche Reflexion über Identität, Transformation und kulturelles Erbe bietet. Geplant ist ein multidimensionales Kunstwerk. Özdemir kombiniert darin Malerei, Sound und Licht, um einen immersiven Erfahrungsraum zu schaffen, der zugleich Geschichte und Gegenwart miteinander verbindet. Das Herzstück bilden vier großformatige, bemalte Stoffe. Diese halbtransparenten Textilien hängen frei im Raum, was ihnen eine Bewegung und Lebendigkeit verleiht, die an die Tänze der Köçeks erinnert. Die Malereien selbst zeigen Tanzszenen, die fließend und voller Dynamik sind. Die Tänzer verkörpern eine kulturelle Praxis, die Normen hinterfragte und Spielräume für Individualität schuf. Solche Themen, spielen auch in Özdemirs Leben und Werk eine zentrale Rolle.
Als Kind einer Familie mit türkischem Hintergrund wuchs der Künstler in einem traditionsbewussten Umfeld in Süddeutschland auf. Seine Arbeiten thematisieren immer wieder die Spannungen zwischen kulturellem Erbe und persönlicher Freiheit. „Köçek“ reflektiert diese Ambivalenz, indem es den kulturellen Kontext der Tänzer untersucht und gleichzeitig ihre Relevanz für moderne Diskurse über Geschlecht und Identität hervorhebt.
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv in Özdemirs Werk sind Stacheln, Zacken und spitze Formen, allerdings aus weichen Materialien. Diese Elemente grenzen ab, sollen vermeintlich abschrecken, offenbaren jedoch bei genauerem Hinsehen ihre Harmlosigkeit. Dieses Spiel mit Gegensätzen zieht sich durch viele Arbeiten, ebenso wie die Frage nach der Interaktion zwischen Mensch und Kunstwerk.
„Mit dem Körper, den ich habe, mache ich Kunst“, sagt Özdemir. Seine Performances, wie „Relation Work III“ (2022), die an Rebecca Horn und Marina Abramović erinnert, untersuchen die Verschmelzung von Kunstwerk und Körper. Seine Kostüme sind dabei immer auf seine eigene Physis abgestimmt, was den persönlichen Bezug der Werke betont.
Özdemirs Arbeiten sind nicht nur visuell vielschichtig, sondern auch nachhaltig konzipiert. Viele seiner Objekte existieren heute nicht mehr, da er die Materialien für neue Projekte wiederverwendet. Alte Kleidung, gefundene Stoffe, oder auch neue industriell gefertigte Materialien werden bemalt, gefärbt und transformiert, um den gewünschten Ausdruck zu erreichen.
So entstand aus Krawatten – zunächst in der Performance „This tie is strangling me“ (2022) ein Symbol für Männlichkeit – später die Installation „Tied around the neck“ (2022). Die ausgestopften Krawatten hängen von der Decke, erinnern an tote Tiere im Schlachthaus und verbinden gesellschaftliche Zwänge mit Fragen von Identität und Gewalt.
Ob in der ortsspezifischen Arbeit „Marbendill“ (2023), in der mythologische Meeresmotive aufgegriffen werden, oder in „Sound-Collective“ (2023), wo künstliche Stimmen persönliche Erfahrungen teilen, Özdemirs Werke sprechen alle Sinne an. Seine künstlerischen Werke sind nicht auf eine Interpretation festgelegt, sondern lassen auch Raum für subjektive Erfahrungen.
Sertaç Özdemirs Arbeiten lassen die Welt durch die Augen eines Künstlers sehen, der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Körper und Objekt, Realität und Fantasie hinterfragt. Mit einem klaren Fokus auf Materialität und einer unverwechselbaren Erzählweise verbindet Özdemir persönliche Geschichten mit universellen Themen wie Zugehörigkeit, Transformation und Identität.
— Dieser Text entstand im Rahmen des Hauptseminars „Kunstkritik: Zeitgenössische Kunst zum Sprechen bringen“ im WS 2024/25 am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg.