Kristin Schnell: Of Cages and Feathers, Kehrer Verlag, Heidelberg 2024, 128 S., 48 Euro | ca. 66.90 Franken
Eines vorweg: Die Vögel, die Kristin Schnell fotografiert, haben die Freiheit nie erlebt. Die gut vierzig Sittiche, Papageien und Diamanttäubchen in ihrer Voliere stammen aus Züchtungen, zudem wurde Schnell zur Anlaufstelle für überforderte Halterinnen und Halter. Der Ambivalenz, ein Tier, das als Sinnbild für unsere Sehnsucht nach Freiheit gilt, in einem Käfig zu halten, ist sich die Fotografin sehr bewusst. Je mehr Zeit sie mit den Vögeln verbrachte, desto mehr Persönlichkeit entdeckte sie. Sie baute kleine Bühnen, die die Tiere in Beschlag nahmen. Die Farben der geometrischen Körper und die Folien sind eine Hommage an das bunte Gefieder. Ihre Form eine Herausforderung für die neugierigen Tiere. Da startet ein Ziegensittich aus der Horizontalen von einem Treppenabsatz, von einem anderen ist hinter einem sonnengelben Quader lediglich das rot-grüne Köpfchen zu sehen. Manchmal zeichnet sich auf den konstruktivistischen Modellen nur ein Schatten ab, dann zeigt sich im Flug, welche perfekte Form ein Flügel hat. Kristin Schnell huldigt der Schönheit dieser Vögel, ihrer Intelligenz und ihrem Vorwitz – und sie hat ein Anliegen: Mehr Respekt und Schutz für alle Lebewesen, auch für die heimischen Arten.
Otto Mueller. Blicke, Körper, Distanz; E.A. Seemann, Leipzig 2024, 272 S., 40 Euro | ca. 59.90 Franken
Mehr Badende als der „Brücke“-Expressionist Otto Mueller (1874-1930) dürfte kaum jemand gemalt haben. Lange wurde sein Blick auf die androgynen, oft noch minderjährigen Nackten im Schilf oder unter Bäumen als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem ursprünglichen, von allen Fesseln der Zivilisation befreiten Leben interpretiert. Heute erzählen Muellers Idyllen der Körperlichkeit und des Exotischen auch von der sexistischen und rassistischen Perspektive des Malers und von der Unbekümmertheit eines Publikums, das darin teilweise bis heute nichts Problematisches erkennen will. Das LWL-Museum in Münster, das zahlreiche Bilder von Mueller in seiner Sammlung hat, setzt genau dort an. Seit Jahren pflegt das Haus einen kritischen Umgang mit Muellers Œuvre, ergänzt immer wieder Bildbeschriftungen um Hinweise auf dessen stereotypisierende Darstellungen von jungen Frauen, Schwarzen Menschen, Rom:nja und Sinti:zze. Anlässlich des 150. Geburtstags von Otto Mueller befragt das LWL-Museum sein Werk nun in einer Ausstellung und einem umfangreichen Katalog aus heutiger Perspektive. Mit überraschenden Einsichten, wie etwa im Beitrag von Valentina Bay und Anna Mirga-Kruszelnicka über Muellers berüchtigte „Z***“-Mappe. Dass dessen Porträts mitunter nackter Rom:nja posthum von den Nazis als „entartet“ diffamiert wurden, habe im kollektiven Bewusstsein des weißen, westlichen Publikums die Tatsache verdrängt, dass auch Muellers Bilder Ausdruck eines stigmatisierenden Fremdbildes waren und so eines Rassismus, der zur Ausgrenzung, Verfolgung und späteren Ermordung der Rom:nja durch die Nazis beigetragen habe. Statt um Anklage geht es den Autorinnen dieses lesenswerten Katalogs um die Anerkennung der Ambivalenz von Muellers Werk. Flankiert werden dessen Bilder von Arbeiten der Rom:nja-Künstlerinnen Małgorzata Mirga-Tas, Luna De Rosa und Vera Lacková sowie von Natasha A. Kelly.
David Graham: Locations from a movie I never made, Kehrer Verlag, Heidelberg 2024, 128 S., 48 Euro | ca. 66.90 Franken
Wie wohl die Déformation professionnelle eines Location Scouts aussieht? David Grahams Buch gibt hier einen Einblick. Der amerikanische Fotograf arbeitet für die Filmindustrie, unter anderem für Regisseure wie Wes Anderson, Ang Lee und Steven Spielberg. Um die passenden Orte für die Streifen zu finden, reist er nicht allein durch die USA, sondern auch nach Europa, manchmal ähnelt sein Blick dem eines Streetphotographers. „Locations from a movie I never made“ führt an Orte mit einer besonderen Aufladung. Etwa zu einem Kasino in Nevada, in dem zwei Männer in einem in violettes Licht getauchten Raum auf ihre Handys starren oder zu einer Holzkirche vor der imposanten Berglandschaft Islands. Für welche Filme diese Orte gecastet wurden und ob sie das überhaupt wurden, ist zweitrangig. Sie sind dramatisch per se und spielen einmal die Hauptrolle in unserem Kopfkino.
Tapta. Flexible Forms, Hatje Cantz, Berlin 2024, 192 S., 40 Euro | ca. 66.90 Franken
Für Tapta (1926-1997) mag der Wechsel von organischen Materialien wie Wolle, Sisal und Hanf hin zu Neopren in den 1990er Jahren nur konsequent gewesen sein. Tapta, die eigentlich Maria Wierusz Kowalska hieß, hatte bereits Anfang der 1980er Jahre mit Gummi experimentiert. Ihre Arbeiten bekamen dadurch scharfe Kanten und waren eindeutig dreidimensional. Sie mache Räume, die bewohnt werden wollen, Räume für Gefühle und Räume für Erfahrungen, hat sie einmal gesagt. Als sich Tapta in Belgien zur Textilkünstlerin, genauer zur Weberin ausbilden ließ, hatte sie bereits einiges hinter sich. Sie war 1944 am Warschauer Aufstand beteiligt und wurde von den Nationalsozialisten verhaftet. Später verbrachte sie mit ihrer Familie ein Jahrzehnt im Kongo.
Danach ging es mit ihrer Karriere erst so richtig los. Vielleicht inspiriert von der afrikanischen Natur, die sie geliebt hatte, entstehen erst freie, noch flache Webarbeiten. Zunehmend löst sie sich jedoch vom klassischen Wandbehang, in den 1970er Jahren schafft sie Environments, die perfekt für diese Zeit sind. Irgendwo zwischen Design und Möbel eignen sie sich zum gemeinsamen Abhängen und für lange Gespräche. Tapta knotet Sisal zu Installationen, die von der Decke hängen. Die Studierenden ihrer Kurse an der Ecole nationale supérieure des arts visuels de la Cambre in Brüssel unterrichtet sie nicht im Weben, sondern in „flexible sculptures“. Neopren verarbeitet sie zu stehenden Skulpturen im öffentlichen Raum, die Schutz versprechen, mit ihnen hat sie alles Ornamentale der Textilkunst weit hinter sich gelassen. 1997, in dem Jahr, in dem sie sterben sollte, war in Warschau eine Retrospektive dieser ungewöhnlichen Künstlerin zu sehen. Aktuell ist ihr Werk im Muzeum Susch in Graubünden bis zum 3. November 2024 wiederzuentdecken.
Karen Irmer: State of Change, Kerber Verlag, Bielefeld 2024, 144 S., 38 Euro | ca. 51.90 Franken
In den Fotografien von Karen Irmer ist es auf verwirrende Weise so wie im wirklichen Leben: Die Welt steht Kopf und wir merken es nicht. Aber wir ahnen es. Und je näher wir hinschauen, desto klarer wird: Wir sehen und wissen es sogar. Ihre atmosphärischen Landschaftscollagen aus je zwei Fotografien organisieren sich um einen Horizont, in dem sich unsere Ängste vor dem unkontrollierbaren Wandel und unserem Beitrag dazu zu spiegeln scheinen. Die aufwendige Monografie gibt darüber hinaus einen breiten Überblick über Irmers Videoarbeiten und Rauminstallationen.