Ein Jahrhundertjubiläum

Neue Sachlichkeit Grosz
Georg Grosz, Porträt des Schriftstellers Max Hermann-Neiße, 1925 © Estate of George Grosz, Princeton, N.J./VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas
Interview
18. November 2024
Text: Redaktion

Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum.
Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, Mannheim.
22. November 2024 bis 9. März 2025.
www.kuma.art

Neue Sachlichkeit, Laserstein
Lotte Laserstein, Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: bpk / Städel Museum
Neue Sachlichkeit Henschel
Arno Henschel, Dame mit Maske, 1928, Foto: Görlitzer Sammlungen; Georg Grosz

Vier Fragen an Inge Herold, Kuratorin der Mannheimer Schau „Die Neue Sachlichkeit“

Artline: Mit seiner Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ ist Gustav Friedrich Hartlaub 1925 in der Kunsthalle Mannheim ein richtiger Coup gelungen. Der Begriff prägte eine bestimmte Zeit. Gelingt das einmal im Jahrhundert? Und was bedeutet dieses Erbe für die Kunsthalle Mannheim?
Inge Herold: Einen heute noch gültigen Begriff für ein ganzes Epochenphänomen zu prägen, gelingt in der Kunst- und Kulturgeschichte wirklich nur äußerst selten. Bis heute verbindet man damit weltweit die Kunsthalle Mannheim. Auch international wurde oder wird an dieses Jubiläum erinnert, von Wien bis New York. Insofern ist es ein Grund für uns zum Feiern, umso mehr als viele kulturelle Mannheimer Institutionen dieses Jubiläum mit unterschiedlichen Formaten begleiten und bereichern.

Artline: Bei seiner Anfrage an potenzielle Leihgeber 1923 bat Hartlaub um neu gegenständlicher Malerei des rechten und linken Flügels. Es ist also komplizierter?
Herold: Die Frage würde ich umformulieren. Er fragte nicht nach den beiden Flügeln, sondern stellte schon 1922 fest, dass die neuen Tendenzen ambivalent waren, dass es grob zwei Richtungen gab: den linken sozialkritischen Flügel und den klassizistischen konservativeren rechten Flügel. Doch auch diese Differenzierung greift letztlich zu kurz für die Vielzahl an individuelle Ausprägungen. Gemeinsam war jedoch fast allen Künstlerinnen und Künstlern der nüchterne klare Blick auf die Realität und eine gegenstandsbetonte kühle Bildsprache sowie die Abkehr von der übersteigerten Formensprache des Expressionismus.

Artline: Wie hat sich unser Blick auf diese Zeit verändert, was haben Sie bei „Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum“ anders gemacht?
Herold: Hartlaub zeigte damals Werke von 32 Künstlern, Frauen fehlten ganz. Dies ist ein Punkt, den wir heute korrigieren wollen.  Aber auch grundsätzlich geht es heute um eine kritische Revision und Ergänzung von Hartlaubs Schau. Es gilt Neuentdeckungen an künstlerischen Positionen oder Werken vorzustellen. Bewusst verzichtet hat Hartlaub auf den Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus, obwohl das Phänomen kein auf Deutschland beschränktes war. Um dies beispielhaft zu zeigen, werden in der Ausstellung auch Werke internationaler Kunstschaffender präsentiert wie etwa von Edward Hopper oder Pablo Picasso. Und schließlich weiten wir den Blick in die 1930er-Jahre, um zu zeigen, wie sich die Neue Sachlichkeit im Nationalsozialismus weiter entwickelt hat.

Artline: Warum sind wir heute derart fixiert auf diese Zeitspanne?
Herold: Die Faszination an den 1920er-Jahren ist in der Tat heute größer denn je. Dies liegt einerseits am schillernden Mythos der Goldenen Zwanziger. Grund für das Interesse an jener Epoche ist aber auch, dass sich Parallelen zu unserer heutigen Zeit ziehen lassen: Finanzkrisen, soziale Spannungen, das Erstarken politischer Extreme sowie die rasante technische Entwicklung und damit insgesamt die Erfahrung, in einer Umbruch- und Krisenzeit zu leben.