Testimony. Boris Lurie und zeitgenössische Kunst aus Osteuropa

Boris Lurie
Boris Lurie, Untitled, 1946, © Boris Lurie Art Foundation
Review > Nürnberg > Neues Museum Nürnberg
18. Oktober 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Testimony. Boris Lurie und zeitgenössische Kunst aus Osteuropa.
Neues Museum, Klarissenplatz, Nürnberg.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 17. November 2024.
www.nmn.de

Boris Lurie
Elena Subach, Plants that grew in 2023, 2023 © Elena Subach

Ende der 1950er Jahre wurde das NO! zum Signet der Kunst von Boris Lurie (1924-2008), in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen gemalt, auf Fotos gekritzelt oder auf Plakate geklebt, als Ausdruck der radikalen Verweigerung. Und auch als Logo des NO!-Art-Kollektivs, das Lurie mit Sam Goodman und Stanley Fisher in New York gegründet hatte – als zur gleichen Zeit in Deutschland die Bundesregierung vehement die Forderung des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zurückwies, in Argentinien einen Antrag auf die Auslieferung Adolf Eichmanns zu stellen. Das NO! stand für Nein zu Faschismus, Gewalt, Antisemitismus und Sexismus. Es waren die Wurzeln des eigenen Traumas, das er in seiner Kunst bearbeitete: Im Dezember 1941 hatten SS-Angehörige bei einer Massenerschießung im Wald von Rumbula bei Riga in gerade mal zwei Tagen 26.000 lettische Jüdinnen und Juden ermordet, darunter seine Mutter, seine Großmutter, seine Schwester und seine Jugendfreundin.

Boris Lurie und sein Vater überlebten, sie waren mehrere Jahre in verschiedenen KZs interniert und emigrierten schließlich 1946 nach New York. Die Arbeiten, die in diesen Jahren entstanden, bilden im Neuen Museum Nürnberg jetzt das Zentrum einer kompakten Austellung anlässlich des 100. Geburtstags von Boris Lurie. Es sind vor allem Zeichnungen, oft skizzenhaft und von einer großen Dringlichkeit, getrieben von den Bildern des Grauens und den bohrenden Schuldgefühlen, dieses Grauen überlebt zu haben, während andere sterben mussten. Zugleich ringen diese Bilder aber auch bereits mit dem Wissen, die Todeserfahrung der Shoah nicht künstlerisch zum Ausdruck bringen zu können. Es gibt eine Zeichnung, die das Loch im Zaun zeigt, an dem die SS-Schergen vorbeizogen, bevor diese kurz darauf die weiblichen Mitglieder seiner Familie ermordeten. Daneben hängt das „Porträt meiner Mutter vor der Erschießung“, 1947 aus der Erinnerung gemalt – Fotos von ihr existierten damals nicht mehr.

Ausgehend von diesen eindringlichen frühen Arbeiten unternimmt die Nürnberger Schau den Versuch, Luries Auseinandersetzung mit Unrecht, Krieg und der Missachtung von Menschenrechten in die Gegenwart zu verlängern. Kuratorin Paulina Olszewska hat dafür zehn Kunstschaffende aus Polen, der Ukraine und Belarus eingeladen, oft mit starken Arbeiten wie Jana Shostaks Video „Schrei für Belarus“ oder Elena Subachs Fotoserie über Pflanzen, welche 2023 seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in ihrem Garten wuchsen. Ein produktiver Dialog zwischen Lurie und den jungen Küns­tler*innen will sich dennoch nicht richtig einstellen. Vielleicht weil die Verarbeitung von Gewalterfahrungen je eigenen Kontexten von Zeitgenossenschaft unterliegt.