Miriam Cahn. Kaiser-Ring der Stadt Goslar 2024.
Mönchehaus Museum, Mönchestr. 1, Goslar.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
12. Oktober 2024 bis 27. Januar 2025.
[—artline Nord] Miriam Cahn (*1949) hat nicht viel übrig für die große Bühne. Jedenfalls nicht physisch. Zurückgezogen lebt und arbeitet die gebürtige Baslerin heute im schweizerischen Bergell, der schlichte Betonkubus ihres Ateliers ist schon von weitem zwischen den schroffen Berghängen auszumachen, welche die Straße nach Italien flankieren. Hier ist Cahn zuhause, nicht im Scheinwerferlicht. Anders als ihre Kunst, mit der sie erstmals 1982 zur documenta eingeladen wurde – auch wenn sie kurz vor der Eröffnung dann doch beschloss, sie wieder abzuhängen, weil ihr der ursprünglich versprochene eigene Raum nicht zur Verfügung gestellt wurde. Den bekam sie dann 2017 von Adam Szymczyk, dem Leiter der documenta 14, und zwar gleich an beiden Orten der Ausstellung: In Athen zeigte Cahn eine dichte Installation mit Zeichnungen zu Folter und Flucht, in Kassel ihre Malerei, die seit Mitte der 1990er Jahre ebenso brutal wie offen um das Verhältnis von Körper und Gewalt, Verletzlichkeit, Lust und Aggression kreist. Ihre Bilder lösen ein Ungehagen aus, das auf Empathie zielt. Sie rühren an verschüttete Erinnerungen und heimliche Ängste, subjektive und kollektive Traumata, die sich in raumgreifenden Hängungen oft zu nicht enden wollenden Albträumen sortieren, bevölkert von derangierten oder geschundenen Körpern mit hohläugigen Gesichtern, von blutig Gebärenden oder vermummten Nackten, die von innen heraus zu glühen scheinen. Es ist ein unwirkliches, giftiges Leuchten, mit dem sich Miriam Cahns Bilder ins Gedächtnis einbrennen und dort das Verdrängte wie unter Röntgenstrahlen sichtbar machen.
Die Dringlichkeit dieser zutiefst feministisch und humanistisch geprägten Malerei löst immer wieder erbitterte Gegenreaktionen aus. Im vergangenen Jahr kam es anlässlich von Cahns Retrospektive „Ma pensée sérielle“ im Pariser Palais de Tokyo zu einer Klage von sechs Vereinigungen, die die Künstlerin wegen der „Verherrlichung von Kinderpornografie“ anzeigten. Sie forderten die sofortige Entfernung des Bildes „Fuck abstraction!“ aus der Ausstellung, das eine dünne, gefesselte Person zeigte, die am Boden knieend von einem gesichtlosen Mann zum Blowjob gezwungen wird. Cahn wies den Vorwurf zurück. Ihr Bild zeige keinen Sex mit Minderjährigen, sondern beziehe sich auf das Massaker von Butscha, das russische Soldaten im Frühjahr 2022 an ukrainischen Zivilist:innen verübt hatten: „Hier geht es um eine Person mit gefesselten Händen, die vergewaltigt wurde, bevor sie getötet und auf die Strasse geworfen wurde. Die Wiederholung von Bildern der Gewalt in Kriegen soll nicht schockieren, sondern anprangern“.
Das Gericht gab der Künstlerin Recht – woraufhin ein aufgebrachter Besucher das Bild mit violetter Farbe überschüttete. Dass Miriam Cahn entschied, es dennoch beschädigt in der Ausstellung hängen zu lassen, erzählt viel über ihre konzeptuelle Radikalität und ihr Beharren auf der Kontrolle über die eigenen Bilder. Mit dieser Haltung ist sie längst auch ein Vorbild für eine ganze Generation junger Kunstschaffender geworden.
Im Mönchehaus Museum Goslar erhält die unbeugsame 75-Jährige nun den renommierten Kaiserring 2024 für ihr Lebenswerk. Bei der feierlichen Preisverleihung und der Eröffnung der begleitenden Ausstellung am 12. Oktober 2024 wird Miriam Cahn jedoch nicht anwesend sein – aus persönlichen Gründen, wie sie sagt. Sie möchte, dass ihr Werk für sich spricht. Keine Frage: das tut es. Laut und deutlich.