Orhan Pamuk: Der Trost der Dinge.
Städtische Galerie im Lenbachhaus, Luisenstr. 33, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 13. Oktober 2024.
www.lenbachhaus.de
„Zwei, dreimal im Jahr sind das Istanbuler Zentrum und der Bosporus in dichten Nebel gehüllt. Wabernder seidenweißer Tüll hat alles verhüllt, worin sonst mein Trost besteht. Weder sehe ich die fernen Berge, die meine Fantasie anregen, noch die Prinzeninseln und meine Erinnerung daran, noch auch die Pahsabahce. Warum macht mich dieser Anblick trotzdem glücklich? Es rührt wohl daher, dass mir Istanbul im Nebel wieder vorkommt wie zu meiner Kindheit, weniger überlaufen, poetischer.“ Es ist seltsam, dass ein Mensch, der die geistige Weite einer im Ungefähren verschwindenden Ansicht so liebt wie der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk (*1952), sein Publikum in seinen bildnerischen Schöpfungen so sehr mit inhaltlicher und gegenständlicher Dichte konfrontiert. Derzeit hat das „Museum der Unschuld“, das er 2008 im Istanbuler Viertel Cukurcum eingerichtet hat und das die Materialisierung seines gleichnamigen Romans darstellt, im Lenbachhaus in München temporär Heimat gefunden.
Pamuk schafft nicht nur als Schriftsteller Gedankenräume, sondern auch als bildender Künstler – auch wenn seine Bildwelten nie ganz losgelöst von seinen Texten sind, sondern letztlich quasi als Recherche oder Illustration wirksam werden. Und diese literarisch-künstlerische Verdichtung einer Ausstellung mit dem Titel „Der Trost der Dinge“ ist von starken Gegensätzen geprägt. In den von Pamuk gestalteten rund hundert Dioramen ist jedes der einzelnen Objekte, Fotos, Dokumente mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich in der Fülle potenziert. Rund vierzig der Schaukästen visualisieren einzelne Kapitel des Romans, in dem es um die Liebe des Fabrikantensohn Kemal zu seiner armen Verwandten Füsun geht. Nach einer dramatischen Liebesgeschichte und Füsuns Unfalltod hat er ihr Haus in ein Museum verwandelt, wo die Dinge für immer an sie erinnern und von der großen Liebe der beiden erzählen. So wie der gelbe Stöckelschuh aus der Şanzelize Butik, die Kemal anfangs betritt, um seiner Noch-Verlobten ein Geschenk zu kaufen. Wobei er erstmals auf Füsun trifft …
Der Erzählfaden reiht entlang der Schaukästen einiges über das Leben und die Gesellschaft der Türkei seit 1950 aneinander. So wie die Vitrine „Ein paar leidige anthropologische Tatsachen“ und die ausgelegten Zeitungsausschnitte von Frauenköpfen mit Balken vor den Augen. Sie illustrierten Prozessberichte von „verführten Mädchen“, „ehebrecherischen oder vergewaltigten Frauen“ und Prostituierten, deren vermeintliche Schande durch einen schwarzen Balken zugleich verdeckt und ausgestellt wurde. Zusätzlich hat Orhan Pamuk einige Dioramen geschaffen, in denen er sich mit Werken aus Münchner Museen auseinandersetzt. Etwa mit Paul Klees „Angelus novus“ oder Alfred Kubins „Das große Maul“, aus dem er Dichterinnen und Denker wie Virginia Woolf oder Karl Marx wie aus dem Schlund des Vergessens wieder herausmarschieren lässt.
Als Kontrast zu den überbordenden Vitrinen wird dann eine erholsame geistige und räumliche Weite wirkungsvoll. In den nach dem „Museum der Unschuld“ weiterführenden Räumen kann man tatsächlich tief Luft holen. Begleitet von der einnehmenden Geräuschkulisse mit dem Möwengeschrei und dem Tuten der Schiffe auf dem Bosporus. Das Publikum wird nicht mehr bildhaft, sondern suggestiv in eine andere Welt gebeamt. Eine Video-Projektion zeigt den Blick von Pamuks Haus auf dem Bosporus zu den verschiedenen Jahreszeiten. Hier kann man der an die japanische Tradition erinnernde „Schönheit des übrig gebliebenen Weiß“ und der Transzendenz des Gesehenen, die Pamuk so schätzt, nachspüren. Zu bestaunen sind darüber hinaus eine Reihe von Notiz- und Skizzenbüchern, die wiederum derart kleinteilig und eng beschrieben und bezeichnet sind, dass die Augen der Betrachtenden – vergebens – Trost in der Wiederholung suchen. Ali Kazmas kontemplative Dreikanal-Filmprojektion über Orhan Pamuk schließlich nimmt sich viel Zeit, um den Kosmos des Schriftstellers sichtbar zu machen – und beobachtet voller Bewunderung einen Mann, der sich seiner Bedeutung offensichtlich bewusst ist.