Born Digital. Medienkunst 1995-2005.
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, Zürich.
Dienstag, Freitag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch bis Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 29. September 2024
Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen:
Scheidegger & Spiess, Zürich 2024, 112 S., 25 Franken.
Blut flutet den Screen im tiefrot ausgekleideten Videokabinett im Erdgeschoss des Kunsthaus Zürich. Es rinnt aus Fingerkuppen und Handgelenken, die sich in langsamen Choreografien an frei durch den Raum schwebenden Rasierklingen verletzen. Die kristallinen Formen mit nadelspitzen Enden, die aus dem roten Strom auftauchen, erinnern an Visualisierungen von Viren in medizinischen Lehrfilmen aus der Frühzeit der Computeranimation.
Tatsächlich dürfte es diese seltsam cleane Ästhetik mit ihren zarten Pixeltreppchen und anderen Spuren technischer Überforderung gewesen sein, die Éléonore Bernard und Luca Rey dazu bewogen hat, Yves Netzhammers und Bjørn Melhus’ „Die umgekehrte Rüstung“ aus dem Jahr 2002 an den Beginn ihrer Ausstellung „Born Digital“ zu stellen. In elf exemplarischen künstlerischen Arbeiten geben die beiden hier einen Überblick über die Medienkunst am Übergang von der Videocassette zur Computer-generated Imagery, kurz: CGI. Der Fundus, auf den Bernard und Lay für ihre Recherche zurückgreifen konnten, war die rund 620 Arbeiten umfassende Medienkunstsammlung des Kunsthaus Zürich, eine der größten ihrer Art in der Schweiz. Ihr technischer Fokus – die Anfänge der 3-D-Animation im Kunstvideo zwischen 1995 und 2005 – und das historische Zeitfenster von der Milleniums-Euphorie bis zur Dauermobilisierung des Westens infolge der Terroranschläge von 9/11 bilden den zeitgenössischen Rahmen dieser kurzweiligen, kompakten Schau.
Es ist eine archäologische Reise in eine kaum vergangene Vergangenheit, die dennoch so weit entfernt scheint, dass in der kollektiven Erinnerung längst Anflüge von Nostalgie den Blick verklären. Als Netzhammers und Melhus’ CGI-Animation über die Vulnerabilität der menschlichen Existenz im Techno-Zeitalter erschien, waren Bernard und Lay gerade mal zehn Jahre alt. Die Playstation 2 war eben auf dem Markt gekommen, es gab noch keine Smartphones und das stereoskopische 3-D-Kino, wie wir es heute kennen, war noch in der Entwicklung. Dafür, so lässt „Born Digital“ erahnen, waren der Kreativität und dem Humor der jungen Schweizer Medienkunst keine Grenzen gesetzt. Und auch technologisch war sie auf der Höhe der Zeit. Pipilotti Rist etwa nutzte für ihre Video-Installation „Selbstlos in Lavabad“ von 1994 einer der kleinsten LCD-Monitore, die damals erhältlich waren. In Zürich muss man nun schon sehr genau hinsehen, um die Künstlerin zu bemerken, die da von unten zwischen den Füßen der Besuchenden aus einem Loch im Teppichboden nackt und von Feuer umringt um Hilfe ruft. Die kleinen Bildstörungen, sogenannte Glitsches, die Rists XXS-Film immer wieder in winzige Pixelwolken auflösen, nutzt Tatjana Marušić in ihrer wandfüllenden 3-Kanal-Videoinstallation „A Woman under Influence – to cut a long story short“ als zentrales künstlerisches Mittel, um die dissoziative Wahrnehmung einer alkoholisierten Laura Dean in der drastisch manipulierten Version des TV-Dramas „Citizen Ruth“ ins Bild zu setzen. Auf der Grenze zwischen Videogame und dystopischer Realität bewegt sich Cao Feis frühe Videoarbeit „Cosplayers“, für die die junge Chinesin 2004 Jugendliche aus der Manga-Subkultur in den Bauerwartungsgebieten der rasant wachsenden Megacity Guangzhou in Szene setzte. Die US-Amerikanerin Rita McBride dagegen probt den Spagat zwischen Gestern und Morgen mit einer hypnotischen Videoskizze, die sie aus alten Jacques-Tati-Filmen, TV-Ballett-Schnipseln, bayrischen Volkstanz-Dokus und Computeranimationen ihrer Münchner Großskulptur „Mae West“ montiert hat.
Ein zweiter Schwerpunkt von „Born Digital“ widmet sich dem oft amüsierten Blick der Schweizer Medienkunstschaffenden auf ihr Land an der Schwelle zur Zukunft. Christoph Büchel etwa dokumentiert in seiner Videoarbeit „La Suisse existe“ ungeschnitten die Milleniumsansprache des damaligen Bundespräsidenten Adolf Ogi, dessen pathetische, vom Telepromter abgelesene Ode auf die Schweiz der überdrehten Patriotismus-Parodie „I Love Switzerland“ des Duos Com&Com in satirischem Mehrwert in nichts nachsteht. Passend dazu lassen Lukas Bardill und Gabriela Gerber in ihrer am Weltwirtschaftsforum 2000 in Davos gedrehten Videoarbeit Hubschrauber der Schweizer Polizei in der komplizierten Choreografie eines Mückenschwarms am Himmel kreisen, während auf dem Monitor nebenan die 2015 verstorbene Susann Walder eine neodadaistische Punk-Performance zum ersten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center zelebriert.
Über die gezeigten Arbeiten hinaus gibt „Born Digital“ einen umfassenden Einblick in die Ankaufs- und Restaurierungsgeschichte der digitalen Kunst im Kunsthaus Zürich.