The Myth of Normal: Vom Können und Gönnen. Normalität ist eine Fiktion

Nikita Kadan, Their Words / Ihre Worte, 2019-2024, 2024, Ausstellungsansicht Kunstverein Hannover, 2024, Foto: Mathias Völzke
Review > Hannover > Kunstverein Hannover
1. Juli 2024
Text: Bettina Maria Brosowsky

The Myth of Normal. Vom Können und Gönnen.
Kunstverein Hannover, Sophienstr. 2, Hannover.
Dienstag bis Samstag 14.00 bis 21.00 Uhr, Sonntag und feiertags 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 14. Juli 2024.

www.kunstverein-hannover.de

Imogen Stidworthy, If I knew what giving up looks like, 2024, Videostill, Courtesy the artist
Julischka Stengele, BALLAST | EXISTENZ, 2020/2024, Ausstellungsansicht Kunstverein Hannover, 2024, Foto: Mathias Völzke
Marcos Lutyens, Olfactory Haptic Forms: Sea, Campfire, Cut Grass, Grandma’s Cake, Bubblegum, 2022, Ausstellungsansicht Kunstverein Hannover, 2024, Foto: Mathias Völzke
Panteha Abareshi, Not a Body, 2022, Courtesy the artist, Ausstellungsansicht Kunstverein Hannover, 2024, Foto: Mathias Völzke

[—artline Nord] Wenn wie derzeit die durchtrainierten Fußballspieler ihre Europameis­terschaft, die UEFA Euro 2024 in Deutschland absolvieren und medial dauerpräsent sind, wird wohl so manch einem und einer schmerzlich bewusst, wie wenig der eigene Körper derartiger Prämisse sportlicher Optimierung entspricht. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: eine Krankheit will auskuriert werden, eine Beeinträchtigung quält seit langem die Physis. Wer aber entscheidet eigentlich, was als körperlich vorbildlich, als „normal“ und „gesund“ zu gelten hat? Und wer, welche Formen etwaiger Therapie sich abweichende Körperlichkeiten angedeihen lassen müssen? Eine nachdenkliche Ausstellung im offiziellen Kunst- und Kulturprogramm des Sportevents geht im Kunstverein Hannover in zeitgleicher Kooperation mit dem Salzburger Kunstverein dem Mythos der Normalität nach. Ihr Untertitel: „Vom Können und Gönnen“. Denn darum geht es ja auch: Wie weit ist eine Gesellschaft bereit, Abweichungen zu akzeptieren, statt sie zu brandmarken. Einige der 13 beteiligten Künstler:innen sind selber beeinträchtigt, Peter Schloss hat zudem den gesamten Parcours mit einem taktilen Bodenleitsys­tem strukturiert und in überdimensionierter Braille-Schrift Textarbeiten an den Wänden platziert. In schöner Umkehrung ist die Mehrheit Sehender und sich normal Orientierender nun auf die Übersetzungshilfe durch eine Minderheit Eingeschränkter angewiesen.

Wie ein Mensch entmündigt, sein Körper zum Ding wird, wenn er sich in die Obhut eines Krankenhauses begeben muss, wissen Juliscka Stengele und Panteha Abareshi aus eigener Erfahrung. Für Abareshi, 1999 in Montreal mit einer genetisch bedingten Blutkrankheit zur Welt gekommen, sind die Plastikarmbänder der Hospitäler, auf denen Namen und Befund notiert werden, Ausdruck dieser geringschätzenden Objektivierung kranker Körper. Ihr Video zeigt unzählige solcher Bändchen, ergänzt, dass hier „ein Fallrisiko“, „ein Luxus“ oder „ein Pfund Fleisch“ klassifiziert werden. Der technische Sound hallt durch die gesamten Ausstellungsräume. Stengele, 1982 in Deutschland geboren und in Wien lebend, richtet den Blick aus feministischer Perspektive auf den weiblichen Körper – ein „Allgemeingut“ – und den eigenen, den sie in seiner Mehrgewichtigkeit nicht versteckt. Nur zu oft erfährt sie dafür An­feindungen. Stengeles wie hingeworfen inszenierte Matratzen-Installation „Ballast/Existenz“ reflektiert zudem einen NS-Terminus, der zur Legitimierung einer menschenverachtenden Eugenik und skrupellosen Euthanasie diente.

Die US-Amerikanerin Emilie L. Gossiaux verlor 2010, als 21-Jährige, durch einen Unfall ihr Augenlicht. Sie absolvierte anschließend ihre Kunststudien, in ihrem Alltag ist ihr Assistenzhund elementare Hilfe. Symbiotisch verschmelzen Mensch und Hund in feinen Zeichnungen und Kleinplastiken der Künstlerin, am radikalsten das „Doggirl“: sphinxartige Wesen zwischen Frau und Tier. Fast beklemmend intensiv ist die Mehrkanal-Video- und Akustikarbeit von Imogen Stidworthy, die sich den Mühen der physischen und kognitiven Therapie nach Herzinfarkt oder Schlaganfall widmet. Die 1963 geborene Britin begleitete 2021 den Alltag von Patient:innen im Klinik- und Rehabilitationszentrum Lippoldsberg bei Kassel. Ein behutsames Herantasten an die verschüttete Persönlichkeit und ihre Äußerungswelt wird dort durch körperliches Training, auch gestützt durch Roboter, ergänzt.

Dass derzeit enorm viel physisches und psychisches Leid vermeidbar wäre, macht Nikita Kadan aus Kyjiw deutlich. Eine Beinprothese erzählt stellvertretend von einem 29-jährigen Kriegsfreiwilligen, dessen Unterschenkel amputiert werden musste. Zwölf Operationen folgten, immer begleitet von verordneten Opiaten oder Cannabis in Selbstmedikation: Drogenerfahrungen, so die Stimme aus dem Off, die mittlerweile ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung teilt.