Three Doors. Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. Februar Hanau, Initiative in Gedenken an Oury Jallh: Versagen mit System

Forensic Architecture
Forensic Architecture und FORENSIS, Oury Jallohs Zelle. Rauchspuren, 2022, 3D-Modellierung, © Forensic Architecture und FORENSIS
Review > Stuttgart > Württembergischer Kunstverein
8. Mai 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Three Doors. Forensic Architecture / Forensis, Initiative 19. Februar Hanau, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr. Mittwoch 11.0 bis 20.00 Uhr.
Bis 1. September 2024.
www.wkv-stuttgart.de

Forensic Architecture
Forensic Architecture und FORENSIS, Hanau Arena Bar, 2022, Videostill [Umwandlung des CCTV-Materials von der Arena Bar und dem Kiosk in einen 2D-Plan], © Forensic Architecture und FORENSIS

Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau an zwei Orten neun Menschen von einem Rechtextremen ermordet. Eines der Opfer, Vili-Viorel Păun, war dem Mörder mit dem Auto gefolgt und hatte währenddessen mehrfach versucht, die Polizei zu erreichen – vergeblich: Der Notruf war in dieser Nacht nicht besetzt. Păun wurde in seinem eigenen Auto erschossen. Nach dem Anschlag kehrte der Mörder ins Haus seiner Eltern zurück, wo die Polizei eine Dreiviertelstunde später eintraf. Als die Beamt:innen das Haus nach weiteren vier Stunden endlich stürmten, hatte der Attentäter bereits seine Mutter erschossen und danach sich selbst. Die Polizist:innen des Sondereinsatzkommandos vor Ort hatten die Schüsse angeblich nicht gehört. Wie sich später herausstellte, waren zahlreiche Mitglieder dieses SEK Teil einer rechtsextremen Chatgruppe.  

Im Frühjahr 2023, zum dritten Jahrestag des Anschlags, hatte der Württembergische Kunstverein mit der Stuttgarter Migrantifa eine kleine Ausstellung gezeigt, die entgegen der behördlichen Behauptung vom „Einzelfall“ auf die strukturelle Verankerung rassistischer Gewalt in der Gesellschaft und ihre sehr reale Bedrohung hinwies: „Rechtsextremismus ist ein ernstzunehmendes Problem und kann jede*n in Deutschland treffen, egal ob migrantisch oder nicht“. Zum vierten Jahrestag eröffnete in Stuttgart nun die umfassende Ausstellung „Three Doors“ von Forensic Architecure und Forensis, die 2022 zuerst im Frankfurter Kunstverein gezeigt wurde, bevor sie ans Berliner Haus der Kulturen der Welt wanderte und für jede weitere Station aktualisiert wird. Der Eintritt ist frei, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Tatsächlich lässt sich die Ausstellung so als Erinnerungsort und Mahnmal für die Opfer Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin verstehen. Zugleich ist „Three Doors“ eine atemberaubend detaillierte, erschütternde Studie über vermeintliches Staatsversagen, das sich angesichts anderer exemplarischer Fälle rassistischer Gewalt und der massiven Behinderung, Verschleppung oder Unterlassung ihrer Aufklärung – von den NSU-Morden bis zum ebenfalls hier untersuchten Tod von Oury Jalloh 2005 im Dessauer Polizeigewahrsam – durchaus als Muster beschreiben lässt.

Die drei Türen, die die Ausstellung fokussiert, sind: die Tür der Zelle in Dessau, in der Jalloh vermutlich erst zusammengeschlagen und dann verbrannt wurde; die Tür des Notausgangs der Hanauer Arena Bar, durch die sich fünf Opfer ins Freie hätten retten können, wäre sie in Absprache mit der Polizei und zur Erleichterung von Razzien nicht abgeschlossen gewesen; und schließlich die Hintertür im Haus des Täters, die in der Nacht des Hanauer Anschlags trotz massiver Polizeipräsenz unbewacht blieb. Zu sehen sind im Kunstverein die Ergebnisse der umfangreichen Ermittlungen, die das Kollektiv Forensic Architecture im Auftrag der Angehörigen der Opfer von Hanau anstellte. Gegründet wurde die Gruppe 2010 von Eyal Weizman am Goldsmith College der Universität London. Architektur als Mittel der Spurensicherung konkreter Fälle von Gewalt, aber auch gewalthafter gesellschaftlicher Prozesse hat Weizman schon früh untersucht. International bekannt wurde 2007 seine Studie „Sperrzonen“ über die politische Funktion der Siedlungsarchitektur im Westjordanland, die im Umfeld der documenta 13 auch im Kunstkontext breit rezipiert wurde. Im Zentrum von „Three Doors“ stehen nun die Recherchen des Kollektivs zum Anschlag von Hanau anhand von Aufnahmen zahlloser Überwachungskameras, maßstabsgetreuen Tatort-Rekonstruktionen, Schallmessungen, 3D-Animationen und Protokollen der polizeilichen Kommunikation. Ergänzt wird diese Beweisführung durch zehn Videos, in denen Angehörige und Überlebende ihre Aussagen wiedergeben, die sie während der im Dezember 2021 eingestellten Ermittlungen des Generalbundesanwalts machten. Zwei 180 cm-Leporellos zum Mitnehmen fassen die Recherchen von „Three Doors“ noch einmal in Form minuten- und tagesgenauer Ereignis-Diagramme zusammen. Eine beispiellose  Kooperation von Kunst, Kritik und unabhängiger Kriminalistik im Dienst der Aufklärung und des Gedenkens.