Barbara Probst, Subjective Evidence: Perspektiven auf den Augenblick

Barbara Probst
Babara Probst, Exposure #64, N.Y.C., 555 8th Avenue, 11.26.08, 5:52 p.m., 2008, © Barbara Probst, 2024, ProLitteris, Zürich
Review > Luzern > Kunstmuseum Luzern
10. Mai 2024
Text: Annette Hoffmann

Barbara Probst, Subjective Evidence.
Kunstmuseum Luzern, Europaplatz 1, Luzern.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 16. Juni 2024.
www.kunstmuseumluzern.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Hartmann Books, Stuttgart 2024, 161 S., 48 Euro | ca. 66.90 Franken.

Barbara Probst
Babara Probst, Exposure #152, N.Y.C., Broadway & Broome Street, 04.18.20, 10:46 a.m., 2020, © Barbara Probst, 2024, ProLitteris, Zürich
Barbara Probst
Babara Probst, Exposure #124: Brooklyn, Industria Studios, 39 South 5th St, 04.13.17, 10:39 a.m., 2017, © Barbara Probst, 2024, ProLitteris, Zürich

Für Menschen mit Höhenangst ist das hier nichts. Die dunkelhaarige Frau füllt die rechte obere Bildecke voll aus. Ihre Hände sind leicht ausgestreckt als wollte sie die Tiefe unter sich spüren. Der Sog der Straßenschlucht ist enorm. Wenn man auf der Höhe der Autos angekommen ist, tastet sich der Blick die verschiedenen Fassaden und Dächer hoch, um dann wieder wie ein Senkblei nach unten zu fallen. Überhaupt scheint die Frau mit den halblangen Haaren und dem Hemdblusenkleid die Gefahr zu suchen. Auf einer anderen Fotografie von Barbara Probst (*1964) sieht man sie vor einer riesigen Welle, die Arme wieder angewinkelt als wollte sie das Meer beschwichtigen. Umrahmt werden diese beiden Schwarzweißfotografien von zwei Farbfotografien, eines davon ist der Schlüssel zu „Exposure #186: Kunstmuseum Luzern, Lucerne, 6.23.23, 12:57 p.m.“. Es zeigt die puristischen, leeren Räume des Kunstmuseums, in der Mitte befindet sich mit dem Rücken zum Betrachter ein Mann in Streifenhemd und Jeans, weiter hinten die Frau. Die Körperhaltung kennt man bereits und schaut man genau hin, sieht man, dass sie mit bloßen Füßen auf einer großformatigen Fotografie steht, auf der Ecke eines der Hochhäuser. Das vierte Foto erfasst ihr Gesicht seitlich.

Exposure bedeutet Belichtungszeit oder auch Aufnahme. Die vier Fotos der Arbeit sind in Vorbereitung der Ausstellung „Subjective Evidence“ vor Ort entstanden, teilweise mit einer Drohnenkamera, wenige Minuten vor 13 Uhr am 23. Juni 2023. Betrachtet man Probsts Arbeiten im Kunstmuseum Luzern, beginnt ein Gedankenspiel. Wie kann es sein, dass derweil auf der Straße unten ein Taxi vorbeifährt, die Frauenhand im Zimmer, die nach einem Apfel greift und beinahe eine Wasserflasche streift, einmal gar nicht auf dem Bild zu sehen ist, während auf einem anderen die Wasserflasche verschwindet. 2011, zwei Jahre bevor Barbara Probst, die in München und New York lebt, „Exposure # 106, N.Y.C., Broome & Crosby Streets, 04.17.13, 2:29 p.m.“ fotografiert hat, entsteht eine vorbereitende Skizze. Wie ein Grundriss erschließt die Zeichnung Außen- und Innenraum, sie verortet das Taxi, den Tisch mit dem Apfel und der Wasserflasche sowie die beiden Frauen im Zimmer. Auch die jeweiligen Standorte der Kamera sind eingezeichnet, von denen später die zwölf Fotos der Arbeit gemacht worden sind.

Barbara Probsts Selbstverständnis als Bildhauerin dürfte mit dieser Konstruktion von Raum zusammenhängen und wenn wir uns in ihre Arbeiten einlesen, die von mindestens zwei und bis zu dreizehn Kameras – sowohl analog als auch digital – aufgenommen sind, beginnen auch wir einen Raum zu modellieren, in den wir die einzelnen Arbeiten einpassen. Ob er dem realen entspricht, in dem die Künstlerin arbeitet, sei dahingestellt. Denn nicht immer erkennen oder verstehen wir die Schlüsselszenen, die nachvollziehen lassen, wie sich eins ins andere fügt. Daher wirken Probsts Arbeiten oft sehr cineas­tisch. Die Fotos ähneln Stills, die aus einem Zeitkontinuum herausgenommen wurden und die wir versucht sind, in eine narrative Folge einzubinden. Die Hand, die nach einem Apfel greift oder die Frau, die genau auf der Ecke eines Daches steht, hat etwas von einem Suspense als verberge sich hinter dem Apfel etwas weniger Idyllisches und als könnte die Frau im nächsten Moment das Gleichgewicht verlieren. Doch diese zeitliche Folge gibt es bei Probst ja gerade nicht. Alles ist Simultaneität, insofern sich der Augenblick der Belichtung aufspaltet in verschiedene Kamerapositionen, von denen aus gleichzeitig ein Bild gemacht wird. Man könnte diesen Moment in unzählige Momente vervielfältigen und wie eine große Fläche ausbreiten. Obwohl Barbara Probst durch die Möglichkeit der Rekonstruktion des Raumes suggeriert, dass hier eine Geschichte erzählt wird, erzählt sie von der Unmöglichkeit, eine solche zu erzählen.