Lee Scratch Perry. Das Zürcher Cabaret Voltaire widmet dem 2021 verstorbenen Dub-Pionier und Künstler eine Werkschau

Lee Scratch Perry in seinem Blue Ark Studio, Einsiedeln, 2020, Foto: Assanee Meguid, Courtesy The Visual Estate of Lee Scratch Perry
Porträt
8. April 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Lee Scratch Perry.
Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, Zürich.
Dienstag und Donnerstag 13.30 bis 20.00 Uhr, Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag 13.30 bis 18.00 Uhr.

12. April bis 24. September 2024.
Vernissage am 11. April 2024, 19.00 Uhr, u.a. mit Trinity Njume-Ebong aka DJ Mother Dubber.

www.cabaretvoltaire.ch

www.leescratchperry.art

Lee Scratch Perry, Untitled, 2020, Courtesy The Visual Estate of Lee Scratch Perry
Lee Scratch Perry, TV Sculpture, 2019, Courtesy The Visual Estate of Lee Scratch Perry
Lee Scratch Perry, Kamerarecorder (Marcus Garvey), undatiert, in: Lee Scratch Perry – Black Ark, Datum der Veröffentlichung: Dezember 2024, Edition Patrick Frey, Zürich, Courtesy Edition Patrick Frey und The Visual Es-tate of Lee Scratch Perry
Lee Scratch Perry, HIM Jah live (Black Ark), 2010–2019, Courtesy The Visual Estate of Lee Scratch Perry
Lee Scratch Perry, Untitled Painting (Super Ape), 2019/2020, Courtesy The Visual Estate of Lee Scratch Perry

Die Geschichte des Reggae beginnt, wenn man denn einen Startpunkt sucht, unter anderem mit dem Stück eines jungen Sängers, der sich darüber beschwert, dass der Boss des Labels, auf dem sein Song erscheint, deutlich mehr verdient als er selbst. „People Funny Boy“ hieß Lee Scratch Perrys Hit von 1968 über die ungleiche Konkurrenz zwischen denjenigen, die die Ideen haben, und denjeningen, die im Besitz der Produktionsmittel sind. Dazu gab es Babygeschrei vom Band, als Loop unter den fetten Bass gemischt – Kapitalismuskritik zum Tanzen. Es war die erste Single, die Perry für sein eigenes Label Upsetter Records aufgenommen hatte, nachdem er zuvor knapp ein Jahrzehnt ziemlich erfolgreich als Talentscout, Texter und Produzent für Clement „Coxsone“ Dodd, einen so legendären wie berüchtigten Labelboss, tätig war, ohne dass sein Name je in den Liner Notes der zahllosen Hits aus Dodds „Studio One“ auftauchte.

Lee Perry, 1936 in Kendal auf Jamaica geboren, prägte Anfang der 1970er Jahre maßgeblich den Sound der Insel. Er produzierte unter anderem die frühen Alben von Bob Marley und The Wailers, spielte mit seiner eigenen Band Hunderte von Instrumentals ein, auf die er junge Stars singen ließ oder die ihm als Rohmaterial für seine wegweisenden Dub-Tracks dienten – den Beat gedrosselt, die Bassregler aufgedreht, die Echokammer mit Samples gefüttert und mit Sounds aus Aufnahmegeräten, die in Echtzeit den Raumklang im Studio dokumentierten, multiplizierten, psychedelisch verfremdeten. Lee Scratch Perry nutzte sein Studio „The Black Ark“ wie ein Instrument, mit enormer Lust am Experiment. Als es 1979 in Flammen aufging, wurde er zunächst selbst verdächtigt, das Feuer gelegt zu haben. Die tatsächliche Brandursache wurden nie geklärt. Den Verlust des Ortes mit nahezu sämtlichen materiellen Spuren des eigenen Schaffens wertete Perry als kathartisches Ereignis, als Wendepunkt in seinem Leben. Er verließ Jamaica, zog nach New York, arbeitete eine Zeit lang in London mit dem Dub-Produzenten Adrian Sherwood zusammen und lernte schließlich die Zürcherin Mireille Rüegg Campbell kennen. Die beiden heirateten 1989 und zogen in das verschlafene Klos­terstädtchen Einsiedeln am Sihlsee.

Ab den 1990er Jahren begann Perrys Werk von hier aus über das Musikalische hinaus zu wuchern. In seinem neuen, in der heimischen Garage eingerichteten Blue Ark Studio nähte er vor Alpenkulisse fantastische Kostüme, baute Skulpturen, die an Totems erinnerten, und überbordende Installationen zwischen Soundsystem-Architekturen und Opferaltaren. Er malte Bilder, oft direkt auf die Wand, die er mit Steinen, Spiegeln und CDs beklebte, übersät mit Textfetzen und spirituellen Symbolen von aus verschiedenen Quellen zusammen gesampleten Privatmythologien. Was Perry in die Hände bekam, wurde Teil eines endlosen Stroms künstlerischer Produktion, der ohne Ziel zwischen unterschiedlichen Zuständen von Objekt, Sound und Bild mäanderte, subversiv in seiner gesamtkunstwerkhaften Überforderung, kontrolliert allein vom Meister selbst, diesem SciFi-Schamanen mit seinen absurden Kopfbedeckungen und violett gefärbtem Vollbart, die Finger voller Ringe. „Ich bin ein Außerirdischer aus einer anderen Welt“, sagte er über sich, „ich habe kein Land, kein Anwesen, keinen Besitz, kein Haus. Nicht auf dieser Erde. Ich lebe im Weltall. Ich bin hier nur Besucher“. Als Perry 2021 bei einem Besuch auf Jamaica mit 85 Jahren starb, reiste er seiner eigenen Überzeugung nach einfach nur weiter. Dass das Zürcher Cabaret Voltaire nun seine erste institutionelle Einzelausstellung in Europa zeigt, ist plausibel. Die einstige Beiz im Zürcher Niederdorf, in der sich 1916 gegen die Logik des Kapitals und der bürgerlichen Kultur die Dada-Bewegung gründete, ist der perfekte Ort für das chaotisch wuchernde, maßlose, prozesshafte Werk dieses Künstlers und Sampling-Pioniers, der immer auch auch die Grenzen des Eigentums verschwimmen ließ: „Technologie ist ein Räuber, der sich nimmt, was ihm nicht gehört“.