Kontexte der Gegenwart. Aspekte der Zeit in der Sammlung des Kunstmuseums Bremerhaven

Paloma Varga Weisz, Windsbraut, 2001, Ausstellungsansicht „In Ihrer Zeit. Spuren von Gewicht“, Kunstmuseum Bremerhaven 2023, © Fred Dott
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18. März 2024
Text: Radek Krolczyk

In ihrer Zeit. Spuren von Gewicht.

Kunstmuseum Bremerhaven, Karlsburg 1, Bremerhaven.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 15. September 2024.

www.kunstverein-bremerhaven.de

Hanne Darboven, Opus 43, Bläsertrio Kinder dieser Welt, 2007, Ausstellungsansicht „In Ihrer Zeit. Spuren von Gewicht“, Kunstmuseum Bremerhaven 2023, © Fred Dott
Ausstellungsansicht „In Ihrer Zeit. Spuren von Gewicht“, Kunstmuseum Bremerhaven 2023, © Fred Dott
Sergej Jensen, The last yellow Triangle, 2005, Ohne Titel, 2011, Ohne Titel, 2011 (Wand v.l.n.r.), Ulrich Rückriem, Dolomit gespalten, 1977 (Boden), Ausstellungsansicht „In Ihrer Zeit. Spuren von Gewicht“, Kunstmuseum Bremerhaven 2023, © Fred Dott

[— artline Nord] In einem leeren Raum im obersten Stockwerk des Bremerhavener Kunstmuseums flimmert über eine Wand ein Schwarzweißfilm. „Neuer Hafen Bremerhaven“ ist der Titel der Videoarbeit, die die schwedische Malerin Cecilia Edefalk (*1954) im Jahr 1997 im Anschluss an ihr Arbeitsstipendium in Bremerhaven fertig gestellt hatte. Im Kleinen zeigt sich hier eine ganze Welt: Man sieht auf die Stelle, an der das Meereswasser an die Kaimauer trifft, die Naturgewalt gegen ihre Einhegung. Der Blick trifft auf die Wasseroberfläche, die sich immer wieder hebt, mal etwas sanfter, mal etwas heftiger. Wellen peitschen an der Ziegelmauer hoch. Blasen schlagen auf; es entsteht weißer Schaum. Der Film läuft ohne Ton und doch hört man hier direkt unterm Dach den Regen und den Wind von draußen, in dieser Stadt, in der es immer regnet.

Der Film ist Teil der Sammlung des Bremerhavener Kunstvereins. Seine Direktorin, Stefanie Kleefeld, hat einen kleinen Teil davon in einer Ausstellung neu arrangiert. Gegründet wurde der Kunstverein 1886, den Grundstock der Sammlung bildete 1908 eine Schenkung aus Bremen, die die vor allem See- und Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts enthielt. Im Depot des Kunstvereins befinden sich außerdem zahlreiche Werke regionaler Künstler, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den Stilen der klassischen Moderne versuchten. Aber auch Werke der Worpsweder Maler wie Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler konnten durch Spenden der Mtglieder angekauft werden. Was heute allgemein als Besonderheit der Bremerhavener Sammlung gilt, ist die Dichte an konzeptueller Kunst seit den 1960er Jahren. Darunter finden sich Namen wie On Kawara (1932-2014), Gerhard Richter (*1932) oder Gregor Schneider (*1969). Der Kunstverein kaufte bereits früh ihre Arbeiten, heute wären sie für eine öffentliche Sammlung nicht bezahlbar.

Die Dichte an minimaler und konzeptioneller Kunst aus mehreren Jahrzehnten bildet sich auch in der aktuellen Sammlungspräsentation ab. Die Werke sind in den Räumen des erst 2008 errichteten Waschbetonbaus sparsam und präzise platziert, manche Räume sind einzelnen Künstlerinnen oder Künstlern gewidmet. Formal so einfach und so schwer an Bedeutung wie die eingangs erwähnte Filmarbeit, sind in der Ausstellung so manche Werke. In einem Raum findet man über Eck zueinander gehangen zwei klingende Objekte: einen runden Spiegel und eine kleine Spieluhr. Der Spiegel „Watch“ von Alicja Kwade (*1979) ist eigentlich die Rückseite einer Uhr, deren Ticken man hört und zu deren Ziffernblatt das eigene Gesicht wird. Dagegen spielt Douglas Gordons (*1966) Spieluhr „The Revolution must be free!“ sanft die Internationale –vorausgesetzt jemand dreht an der kleinen Kurbel. Diese Prozesse sind hier gegeneinandergesetzt – der unwillkürliche und der revolutionäre.

Fast schon synthetisch hängt gegenüber die 2004 entsandene, vielteilige Fotoreihe „111 Konstruktionen mit 10 Elementen und 10 Arbeitern“ von Santiago Sierra (*1966), auf der man Arbeiter beim Hantieren mit brusthohen quadratischen Platten sieht. Sie setzen verschiedene Architekturen zusammen, bis sie am Ende unter am Boden liegen, von einer Platte bedeckt. Alle drei Werke haben eigene Form und eigenen Inhalt. In dieser Konstellation aber laden sie sich gegenseitig auf.

In einem anderen Raum sind zehn undatierte Drucke von Käthe Kollwitz (1867-1945) zu sehen. In dunklen, schweren Linien und Flächen, zeigen sie müde Arbeiter und Mütter mit toten Kindern. Die Arbeiten überraschen in einer Ausstellung, die insgesamt eher wenig Figur enthält. Und dennoch fügen sie sich mit ihrer einfachen Formsprache und den existentiellen Themen gut in die Ausstellung ein. Sie gerinnen so zu einer Konkretisierung von Alicja Kwades zwar abstraktem, aber erbarmungslosem Sound.