Paul Kolling, Nadir: Die Vermessung der Welt von oben

Paul Kolling
Paul Kolling, Nadir, 2023/24, konstruiertes Bild, belichtet auf 115,88 Meter 35-mm-Film, Foto: Paul Kolling, und Ausstellungsansicht Kunstverein München
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28. Februar 2024
Text: Jürgen Moises

Paul Kolling: Nadir.
Kunstverein München, Galeriestr. 4, München.
Dienstag bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 21. April 2024.
www.kunstverein-muenchen.de

Paul Kolling
Paul Kolling, Nadir, 2023/24, konstruiertes Bild, belichtet auf 115,88 Meter 35-mm-Film, Foto: Paul Kolling, und Ausstellungsansicht Kunstverein München
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Paul Kolling, Nadir, Fimstill, Foto © Stephan Baumann, bild_raum, Courtesy Paul Kolling

Rund 9.000 funktionsfähige Satelliten kreisen aktuell nach Angaben der Europäischen Weltraumagentur um die Erde. Und im Jahr 2030 werden es laut US-amerikanischem Rechnungshof ganze 58.000 mehr sein. Der Blick von oben auf die Erde ist ein einträgliches Geschäft. Es gibt eine große Nachfrage nach geografischen und wissenschaftlichen Daten, die einen wirtschaftlichen, politischen, militärischen oder auch ökologischen Vorteil versprechen. Auch vor dem Satellitenzeitalter war der Blick aus der Luft auf die Erde wichtig. Nur hat man statt Satelliten Flugzeuge benutzt, um etwa Geodaten, Luftbilder, Karten und Pläne zu erstellen. Das macht man auch heute noch, wie das Beispiel der Hansa Luftbild GmbH zeigt. Deren Ursprünge reichen bis ins Jahr 1923 zurück. Das kann man aktuell in der Ausstellung „Nadir“ von Paul Kolling (*1993) im Kunstverein München erfahren. Und vor allem diese Frühgeschichte der Hansa Luftbild ist es, die den jungen Berliner Künstler interessiert.

Wie lässt sich die Welt von oben darstellen? Wie lässt sie sich überhaupt dokumentieren? Das sind zentrale Fragen, denen Paul Kolling in der recht überschaubaren, aber sehr konzentrierten und eindrücklichen Ausstellung nachspürt. Das zentrale Ausstellungsstück: Ein analoger Kleinbild-Filmprojektor, der im Durchgang zwischen zwei Räumen in mehr als zwei Metern Höhe an einem Balken angebracht ist. Von dort oben wirft er seine Bilder auf eine Leinwand im zentralen Ausstellungssaal. Sein Material, die Filmstreifen, bekommt er aus einem Kasten auf dem Boden zugespielt. Die Filmstreifen ziehen sich bis zum Projektor wie lange Fäden durch den Raum. Weil diese Konstruktion zuerst ins Auge fällt, fragt man sich: Was ist das für eine merkwürdige Apparatur? Das klärt sich bald. Vor allem aber bekommt die Arbeit dadurch einen stark installativen Charakter.    

Der auf die Leinwand projizierte, tonlose Film zeigt einen langsamen Flug über Häuser, Dörfer, Ortschaften, grüne Flächen, Bäume, eine Gebirgslandschaft. Doch auch hier gibt es Irritationen. Denn während man etwa Gebäude, Straßen oder einen Sportplatz sofort erkennt, ist das bei Wäldern oder Gebirgen schwieriger. Da sehen die Bäume teilweise aus wie Knospen, Knollen oder Streichholzköpfe. Und man weiß nicht so recht: Ist das hier nun ein Mikro- oder Makrokosmos, ist das wirklich eine Landschaft? Paul Kolling spielt bewusst mit solchen Verunsicherungen. Es sind Irritationen, die es in der sogenannten Aerophotogrammetrie, welche die Hansa Luftbild seit 100 Jahren betreibt, eigentlich nicht geben soll. Deswegen werden die gefilmten Räume nachträglich entzerrt und „georeferenziert“, das heißt: für eine kartografische Verwendung und Vermessung zweidimensional gemacht. Eine räumliche, perspektivische Darstellung würde da nur stören. Mit „realen“ Landschaften hat das aber nicht mehr viel zu tun.

Die Erstellung und Entzerrung solcher Luftbilder ist ein aufwändiger Prozess, für die es entsprechende Experten braucht. Auf einem Foto aus einem Luftbild-Lesebuch von 1934 kann man zwölf solcher Experten, sogenannte Zeiss-Stereoplanigraphen, sehen. Weitere Bilder und Texte aus dem Buch sowie aus der Zeitschriftenreihe „Luftbild und Luftbildmessung“ aus den Jahren des Nationalsozialismus hängen im kleinen Hinterraum. In einer Transportkiste ist außerdem ein „Reihenbildner“ aus dem Deutschen Museum ausgestellt, den Oskar Messter 1915 für Luftaufnahmen auf 35 Millimeter konstruiert hat. Bilder aus dem Luftbild-Lesebuch dienten Paul Kolling auch als Grundlage für seine freie Rekonstruktion eines Fluges der Hansa Luftbild. Geografische Hinweise dazu gab es nicht. Auch keine Originalfotos mehr, da diese im Zweiten Weltkrieg verloren gingen. Einige Orte der Flugroute konnte Kolling dennoch ausmachen. Aber sie werden nicht genannt, denn um eine dokumentarische Lesbarkeit des Dargestellten geht es hier nicht. Eher darum, zu zeigen, dass die Darstellung und Vermessung der Welt nie wirklich gelingt. Und dass der Glaube daran am Ende nur eine Vermessenheit darstellt.