Samson Young. Situiertes Zuhören

Samson Young, situated listening, 2023, Installationsansicht Kestnergesellschaft Hannover, Courtesy the artist, Fotos: Volker Crone
Review > Hannover > Kestnergesellschaft
11. Januar 2024
Text: Bettina Maria Brosowsky

Samson Young: situated listening.
Kestnergesellschaft,
Goseriede 11, Hannover.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 18. Februar 2024.

www.kestnergesellschaft.de

Samson Young, situated listening, 2023, Installationsansicht Kestnergesellschaft Hannover, Courtesy the artist, Fotos: Volker Crone
Samson Young, situated listening, 2023, Installationsansicht Kestnergesellschaft Hannover, Courtesy the artist, Fotos: Volker Crone
Samson Young, situated listening, 2023, Installationsansicht Kestnergesellschaft Hannover, Courtesy the artist, Fotos: Volker Crone

[— artline Nord] Eigentlich sind Ausstellungshäuser ja eher sinnenfeindliche Institutionen, denn meist werden Besucher:innen auf ihre Sehfunktion reduziert. Dem 1979 in Hongkong geborenen und dort lebenden Künstler Samson Young bietet die Kestner Gesellschaft Hannover nun gleich drei Räume, um seine multidisziplinären Kunstformen einmal opulent zu inszenieren. Gut, das kleinformatige, 15-minütige Video „Sonate für Rauch“ aus dem Jahr 2020, das er dem Kabinett mit rund 40 historischen Rollenbildern aus Japan zur Seite stellt, ist sicherlich zu dezent, um gefesselt in seinen Bann zu ziehen. Aber Young reißt hier schon einmal an, welche akustischen Quellen er in seinen großen Kompositionen einsetzt. Das wären nämlich, neben klassischen und elektronischen Instrumenten, Geräusche der Natur, etwa des fließenden Wassers, oder aus Prozessen wie dem rituellen Verbrennen von Weihrauch oder anderen Ingredienzien, einem so flüchtigen wie spirituellen Ereignis.

Im Erdgeschoss ist Youngs große Videoarbeit mit vier Audiokanälen „The Travellers and the Listeners“ eingerichtet. Sie bezieht sich auf ein kurzes Gedicht von Walter de la Mare, „The Listeners“ von 1912, das über das Zuhören und die Stille sinniert. Wird das Klopfen des einsamen Reisenden an der mondbeschienenen Tür erhört? Blickt jemand auf der Türschwelle in seine grauen Augen? Nein, nicht die geringste Regung, obwohl jedes Wort, das er spricht, durch die Schatten des stillen Hauses hallt. Young komponierte dazu sechs musikalische Sätze für einen Streicher und einen Holzbläser, die sich antwortend gegenüberstehen und zeitweilig von einem Radfahrer umkreist werden. Dieses minimalistische Setting ist aber nur eine von vielen, optisch auch wesentlich dichteren, collagierten Situationen, die den Sound und seinen starken Rhythmus visuell tragen. Der umgebende Ausstellungsraum ist dunkel gehalten, ein roter Teppichboden dämpft akustisch und heizt gleichermaßen die Atmosphäre an. Denn darum geht es Samson Young, der nicht in die Disziplin der Klangkunst einrangiert werden möchten: Räume, die über den ganzen Körper erfahren werden können und darüber hinaus reichlich Inspiration zu intellektuellen Assoziationen vorhalten. In der Live-Version, wie in diesem Jahr in Hongkong produziert und aufgeführt, benötigte die Inszenierung drei Stunden, für die Installation ist sie auf ausstellungskompatible 41 Minuten Dauer reduziert.

Ungleich dramatischer ist das zweite Opus „Variation of 96 Chords in Space“, auch ganz aktuell von 2023. Sechs Video- und sechs Surround Audio-Kanäle deklinieren das System einer Farb-Ton-Synästhesie durch – die Besucher:innen auf bequemem Kinosesseln mittendrin. Jede der gewählten 96 Farben wird in einen eigenen Akkord übersetzt, der aus einer Fülle von konventionellen bis ungewöhnlichen Instrumenten – Bratsche, selbstspielendes Klavier, Perkussion mit Holzblock und Crotales – aber auch Naturklängen wie Wasserrauschen erzeugt wird. Hellere Farbtöne finden ihr Pendant in einfachen Akkorden, je dunkler der Farbton wird, desto komplexer werden die Qualitäten der Intervalle. Jeder Akkord ist Ausgangspunkt kurzer Kompositionen von 60 bis 90 Sekunden, mit einem Arsenal von mobilen und stationären Mikrofonen aufgenommen und aus zwei verschiedenen Perspektiven gefilmt. Die einzelnen Sequenzen werden per Software gesteuert abgespielt, zu zwölf Farbgruppen gegliedert. Die Farben und ihre zugeordneten Kompositionen bewegen sich von helleren zu dunkleren Schattierungen, monochrome Flächen und musikalische Situationen überschieben sich in unterschiedlich großen Projektionen. Nach einem Durchlauf beginnt eine andere Farbgruppe. Oder das System schaltet per Zufallsgenerator um: auf zwei Komplementärfarben oder vier Schattierungen desselben Farbtons. Aber so genau muss man das gar nicht wissen, hätte ohnehin nicht die Muße, einen vollen Zyklus von durchschnittlich 2 Stunden 10 Minuten Dauer zu verfolgen. Also: hineinhören, sich an Farben berauschen – und aus dem Alltag tragen lassen!