Aufgeweichte Skulptur- und Bildbegriffe: Textil als künstlerisches Material

Magdalena Abakanowicz, Abakan red I, 1970–73, © Magdalena Abakanowicz, Foto: Zürcher Hochschule der Künste / Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung
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27. Dezember 2023
Text: Rainer Beßling

Kunst Stoff – Textil als künstlerisches Material.
Kunsthalle Emden,
Hinter dem Rahmen 13, Emden.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 25. Januar 2024.

www.kunsthalle-emden.de

Caroline Achaintre, Venus, 2021, © Caroline Achaintre, Courtesy the artist, This is Arcade, London & Art : Concept, Paris, Foto: Romain Darnaud
Sonia Delaunay, Hommage à Tristan Tzara, 1956, Courtesy Kunsthalle Emden
Claes Oldenburg, Miniature Soft Drum Set, 1967–70, © Claes Oldenburg, Foto: Jonas Kern, Großmaischeid

[— artline Nord] Lang vorbei die Zeiten, in denen das Material hinter der Kunst zu verschwinden hatte. Es sichtbar machen und zur Sprache bringen, das ist inzwischen selbstverständlicher Teil ästhetischer Strategien. Dabei findet nicht nur vermeintlich kunstferne Stofflichkeit Verwendung.

Eines der ältesten Materialien greift die Kunsthalle Emden auf. In einer von Kuratorin Kristin Schrader klug konzipierten und unterhaltsam präsentierten Ausstellung werden „Dimensionen des Textilen in der Kunst von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart“ aufgefächert. Dabei geht der Blick noch weiter zurück und reicht von der Alltagsfunktion schützender und schmückender Kleidung bis zur Großmetapher der Daseinsdeutung in Ritus, Religion und Philosophie. Die Schau ist weder illustrierte Kulturgeschichte, noch zwängt sie ihren Stoff in aktuelle Diskurse. Sie mäandert durch das Thema, geleitet von Lust an spielerischer Korrespondenz und überraschenden Kontrasten. Nicht zuletzt von Humor. Timm Ulrichs greift mit dem „roten Faden“ ironisch eine der zahllosen Redewendungen rund ums Textile auf. Ulrike Kessls installiert ortsbezogen „Nylons in Space“, ein gar nicht abgetragenes Sinnbild für vernetzte Existenz.

Ausgehend von den Bauhaus-Werkstätten zeichnet die Ausstellung den Einzug des Textilen in die Avantgarden nach. Die Webarbeiten einer Anni Albers, Gunta Stölzl oder Sophie Taeuber-Arp dokumentieren einen produktiven Austausch zwischen angewandter und freier Kunst. Dabei kommen Bildsprachen und Werktechniken indigener Kulturen ins Spiel. Über „Fiber Art“ führt der Weg zur „New Sculpture“, in der Robert Morris den Skulpturbegriff buchstäblich aufweichte und das Plastische ins permanent Prozesshafte und Unabschließbare trug.

Welch subversive Kraft und Komik dem Textilen innewohnen kann, belegen das schlaffe Schlagzeug des Stoff-Virtuosen Claes Oldenburg oder Cosima von Bonins Lesart der Comicfigur Daffy Duck, der, wie ein Wandtexte formuliert, „wild ergeben auf einem Höckerchen“ liegt. Parodie taucht immer wieder auf. Das Textile als Körperhülle wird vom Kultobjekt über Fast Fashion bis zum Performance-Instrument verfolgt. Stoffe erscheinen als Spiegel kolonialer Beziehungen, Ausbeutung und politischer Repräsentation. Nicht zuletzt werden am Textilen feministische Aspekte verhandelt. Mag die Etikettierung des Webens als weibliche Technik Ausdruck patriarchaler Denkstrukturen gewesen sein, setzen Künstlerinnen heute ihre Stoff-Kunst lust- und kraftvoll zur Selbstermächtigung ein.