Diego Marcon: Have you checked the children? Wartezonen zwischen Horror und Geborgenheit

Diego Marcon, The Parents’ Room, 2021, Detailansicht, in: Diego Marcon, Have You Checked the Children, Kunsthalle Basel, 2023, Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel
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16. November 2023
Text: Dietrich Roeschmann

Diego Marcon: Have You Checked the Children?

Kunsthalle Basel,
Steinenberg 7, Basel.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 20.30 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 21. Januar 2023.

www.kunsthallebasel.ch

Diego Marcon, The Parents’ Room, 2021, Installationsansicht, in: Diego Marcon, Have You Checked the Children, Kunsthalle Basel, 2023, Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel
Diego Marcon, La Banda di Crugnola, 2023, Installationsansicht, in: Diego Marcon, Have You Checked the Children, Kunsthalle Basel, 2023, Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel
Diego Marcon, Dolle, 2023, Detailansicht, in: Diego Marcon, Have You Checked the Children, Kunsthalle Basel, 2023, Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel

Unter Schock verlieren Menschen oft das Gespür für Zeit, Wärme, Kälte, andere Menschen. Gefühle sind dann wie ausradiert, kaum erreichbar unter einer dicken Schicht Apathie. Auch der Mann, der in Diego Marcons Videoarbeit „The Parents‘ Room“ auf der Bettkante sitzt und in die winterliche Landschaft starrt, scheint die Brise nicht zu spüren, die den Schnee durch das offene Fens­ter ins Zimmer treibt. Regungslos verharrt er in der eisigen Stille und wartet. Nach ein paar Minuten landet eine Amsel auf der Fensterbank. Sie reckt den Kopf, stolziert auf und ab, flattert, tanzt – doch der Mann schaut nicht auf. Auch dann nicht, als mit der Wucht einer Flutwelle Orchestersound in den Raum spült. Die Geigen und Klarinetten spielen nur für ihn, der dann doch schließlich sanft wie ein Crooner beginnt, vom Blutbad zu singen, das er gerade angerichtet hat, bevor er sich kurz darauf selbst tötete. Nach und nach fallen seine Opfer in die Ballade mit ein: sein toter Sohn, die Leiche seiner Tochter, seine erstochene Frau im Bett – bis das Lied endet und Ruhe einkehrt. Schweigen. Vier endlose Minuten lang.

An der Venedig Biennale 2022 gehörte das Mikromusical von Diego Marcon (*1985) zu den abgründigen Highlights der Hauptschau „The Milk of Dreams“. Die extreme Lautstärke, mit der die Melancholie angesichts des unfassbaren Grauens hier wiederholt für einen kurzen Moment in die Stille einbrach, ließ die Besucher:innen alle paar Minuten hochschrecken, bevor sie sich schließlich daran gewöhnten. Das wirkte wie eine subtile Herausforderung emotionaler Erstarrung. Der Schrecken des Todes lässt nach, wenn er sich zu oft wiederholt. Dass Marcon die Protagonist:innen seiner Videoarbeit in Masken spielen ließ, die zuvor von ihren eigenen Gesichtern abgenommen worden waren, verstärkt den dissoziativen Charakter der Figuren.

Ähnlich intensiv lässt sich die Gleichzeitigkeit der Extreme auch in Marcons Soloschau in der Kunsthalle Basel erleben, die fünf raumgreifende Arbeiten des Mailänders zu einem großen, trägen, packenden Loop mit erheblicher Sogwirkung verbindet. Alles erscheint hier zuviel und zu wenig zugleich. Auf die totale Intensität folgt die totale Leere, auf Lärm die völlige Abwesenheit von Geräusch, auf gleissendes Licht absolute Finsternis – wie in der Videoarbeit „Monelle“, die als unruhiger Alptraum den kleinen Saal im Zentrum der Schau bespielt. Alle paar Sekunden taucht hier ein Blitz mit heftigem Knall junge Frauen in grelles Licht, die mal schlafend, mal wie tot in den Fluren einer einstigen Parteizentrale Mussolinis liegen. Doch die 30 superkurzen Sequenzen machen nur einen Bruchteil der Gesamtlänge des Filmes aus, die meiste Zeit über herrscht Finsternis. Sie bildet eine Art Reflexionsraum, in dem die Nachbilder langsam verblassen, und ist zugleich Erwartungsraum für den nächsten unkalkulierbaren Blitz.

Fühlte sich das Warten auf die Musik in „Parents‘ Room“ an wie ein zielloses Verharren im Stand-by-Modus, geht es in „Monelle“ einher mit Angst und Ungewissheit. Wie ein Still aus der Exposition eines Horrorfilms wirkt da auch die Skulpturengruppe, die Diego Marcon im Saal nebenan aufgestellt hat. Die 13-köpfige Kinderkapelle aus Beton steht schweigend im Raum, ihre Körper und Gesichter erinnern an computergenerierte Anatomien japanischer Anime-Figuren. Auch sie warten, die Instrumente in der Hand, mit unschuldigem Blick, rundum umgeben von einem geschlossenen roten Samtvorhang, der keinen Eingang und keinen Ausgang offen lässt. Es ist ein Raum abseits der Alltagsrealität, gleichermaßen ein Ort der Klaustrophobie und der Geborgenheit – wie in Marcons jüngster Videoarbeit „Dolle“, die im letzten Saal zu sehen ist. Auf wandfüllendem Screen sitzt hier eine Maulwurfsfamilie in ihrer unterirdischen Wohnung und liest sich gegenseitig endlose Zahlenkolonnen vor. Wenn es über ihnen, in der Welt der Fressfeinde, rumpelt oder knackt, verharren sie kurz mit geneigten Köpfen, bevor ihre knarzigen Stimmen wieder den Raum füllen. Dass Marcon diese Figuren mechanisch animiert hat – unter jedem Fell steckt ein kleiner Roboter –, verleiht ihrer Litanei einen besonderen Reiz. Im Endlos-Loop wirkt sie wie die Beschwörung scheinbarer Sicherheiten in einer unsicheren Welt.