Interdependencies. Perspektiven zu Care und Resilienz: Die Dichotomie krank/gesund überwinden

Interdependencies
Maryam Jafri, Depression, 2017, Courtesy Galleria Laveronica, Modica
Review > Zürich > Migros Museum für Gegenwartskunst
15. November 2023
Text: Dietrich Roeschmann

Interdependencies: Perspektiven zu Care und Resilienz.
Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstr. 270, Zürich.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 21. Januar 2024.
www.migrosmuseum.ch

Interdependencies Migros Museum
Rory Pilgrim, the vacuum cleaner, For They Let In The Light, 2022-2023, Videoinstallationsstill
Interdependencies Migros Museum
Lauryn Youden, Venus in Scorpio, 2023, Ausstellungsansicht Open Forum, Berlin, Courtesy the artist und Open Forum, Berlin
Interdependencies Migros Museum
Rory Pilgrim, RAFTS, 2022, Courtesy the artist, Videoinstallationsstill

„Für sich und andere zu sorgen ist der antikapitalistische Protest schlechthin“, sagt Johanna Hedva (*1984). Die koreanisch-amerikanische Autorin und Künstlerin setzt sich in ihren Arbeiten seit Langem mit dem Zusammenhang von Normativität, Markt und Macht auseinander. Ihre Installationen kreisen um Krankheit und Queerness, oft mit Blick auf das subversive Potenzial von Abweichung. Davon erzählt auch die hängende Glasskulptur „Clock Is Always Wrong (Other Mouth)“, mit der Hedva im Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst derzeit den Parcours durch die sehenswerte Gruppenschau „Interdependencies: Perspektiven zu Care und Resilienz“ eröffnet. Der mundgeblasene Glaskolben, der mitten im ersten Raum von der Decke hängt, ist mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt, deren Konsistenz so beschaffen ist, dass mit dem letzten Ausstellungstag der letzte Tropfen zu Boden gefallen sein wird. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Memento mori. Für Hedva ist es eine Performance von Widerstand. Denn im unumkehrbaren Prozess ihrer Realisierung – gewissermaßen ihres Zu-sich-kommens – entzieht sich diese Arbeit sukzessive der ökonomischen Verwertung und den Beschränkungen, die ihr dadurch auferlegt wären.

Hedva liefert damit ein schönes Bild für die Autonomie des Körpers und der Möglichkeit, seiner kategorischen Einordnung zu entkommen, sei es durch Selbstsorge oder Fürsorge. Darum kreist auch die von Michael Birchall kuratierte Gruppenschau mit Arbeiten von 14 Kunstschaffenden. Was bedeutet Gesundheit, was Krankheit? Auf welche Weise prägen diese Konzepte den kollektiven und den individuellen Umgang mit Schmerz, Leiden oder Behinderung? Und wie hat sich die Perspektive darauf seit Beginn der Corona-Pandemie verändert? „Interdependencies“ nähert sich dem Thema mit bemerkenswerter Vielfalt. Jesse Luke Darling (*1981) etwa präsentiert vier Blumenarrangements, die ohne Wasser und unter Plexiglas verschlossen während der Ausstellung langsam vor sich hinwelken – und versetzt uns so in die Position von Besuchenden, erst am Kranken-, später am Sterbebett. Daneben befragt der Künstleraktivist the vacuum cleaner in einer berührenden Videoarbeit Jugendliche, die während der Corona-Pandemie in London zur Zwangsbehandlung in die Psychiatrie eingewiesen worden waren. Indem er ihnen das Sprechen über Erfahrungen mit einem System ermöglicht, das ihre Not nicht sieht, stellt er den Jugendlichen als Künstler den Raum zur Verfügung, der ihnen von der staatlichen Fürsorge verwehrt wurde. Aus der Ferne scheppert dazu die Bodeninstallation „Relax“ von Ezra Benus (*1993), animiert von einem Massagestab, der zwischen Nierenschalen und Bettpfannen seine Kreise zieht und lautstark auf den oftmals betreten beschwiegenen Zusammenhang von Krankheit, Pflege und Sexualität hinweist. Explizit und einfühlsam widmet sich diesem Tabu auch Adina Pintilies (*1980) Videoarbeit aus der Werkgruppe „Cathedral of the Body“, mit der die rumänische Regisseurin zuletzt an der Venedig Biennale vertreten war. In drei Porträts erkundet sie hier die Bedingungen von Intimität und Liebe abseits verbreiteter Vorstellungen über Krankheit und Behinderung. Lauryn Youden (*1989) dagegen verschränkt in ihrer Arbeit auf komplexe Weise die Perspektiven des Innen und Außen miteinander. Ihre Installation „Venus in Scorpio“ besteht aus Möbelklassikern von Le Corbusier, die an Seilen von der Decke schweben wie ein Wohnzimmer-Interieur, das sich ins Aerial-Yoga-Studio verirrt hat. Die Künstlerin nutzt die teuren Stücke als Displays für Bondage-Arrangements aus Tablettenpackungen, Tees, Testergebnissen und di­versen Büchern über die gesellschaftlichen Implikationen von Krankheit. Youden leidet selbst unter einer chronischen Erkrankung, deren Symptome sie teils daran hindern, ihre Wohnung zu verlassen. Sie kennt die Grenzen, die die Welt für Menschen mit Krankheit bereithält. In „Venus in Scorpio“ befragt sie diese auch mit Verweis auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit des Designs modernistischer Möbel und medizinischer Mobilitätshilfen. Warum das interessant ist? Le Corbusier war Anhänger der Eugenik und Sympatisant des Faschismus. Dass der Disziplinierungs- und Selektionswahn dieser Ideologien in seinen Designs keine Spuren hinterlassen hat, ist kaum wahrscheinlich.