Camille Henrot: Sweet Days of Discipline.
Lokremise, Grünbergstr. 7, St. Gallen.
Montag bis Samstag 13.00 bis 20.00 Uhr, Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 5. November 2023.
www.kunstmuseumsg.ch
Alle paar Minuten schnauft eine Dampfwolke mit großem Seufzer aus einem bügeleisenartigen Objekt in der Mitte des Raumes. Der Sound mischt sich mit dem Schmatzen und Brabbeln eines Babys, das in der Lokremise des Kunstmuseums St. Gallen von der Decke rieselt. Dazu tropft unaufhörlich Wasser in ein Becken. Aus feinen Schläuchen rinnt es über ein Hemd, das auf einer Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt ist wie die abgezogene Haut eines frisch geschlachteten Tieres. Es ist eine eindringliche, leicht unheimliche Klangkulisse, die Camille Henrot (*1978) wie einen sanften Schleier über ihre Arbeiten in der ehemaligen Rundhalle der Bahn gelegt hat. Das grünliche Licht, das durch die getönten Fenster dringt, verstärkt den Eindruck, die Welt hier aus der mentalen Perspektive dauerhafter Übermüdung zu sehen. Nicht ohne Grund.
Als Camille Henrot 2018 ihren Sohn auf die Welt brachte, begann sie sich künstlerisch und intellektuell intensiv mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Mutterschaft zu beschäftigen, mit den Effekten körperlicher Grenzerfahrung, dem Verlust des Selbst und den ebenso intimen wie ambivalenten Beziehungen zwischen Eltern und Kind. In zehn ausführlichen Essays schrieb sie darüber in ihrem Blog „Milkyways“ für das Online-Magazin „Die Republik“. Es entstanden umfangreiche Aquarellserien und Werkgruppen mit Titeln wie „System of Attachment“, „Wet Job“ oder „Mother Tongue“, in denen sie ihren Körper als Schauplatz des Verzehrens und Verzehrtwerdens thematisierte, der Kontrolle und des Exzesses, von Liebe und Erniedrigung, Schutz und Gewalt.
In St. Gallen zeigt Camille Henrot nun vor allem skulpturale Arbeiten aus jüngerer Zeit. Ausgangspunkt der Ausstellung ist die titelgebende Novelle der Schweizer Autorin Fleur Jaeggy. Ihr Text „Sweet Days of Discipline“ kreist um zwei Mädchen in einem Internat, deren fragile Freundschaft sich nur in einem sehr speziellen Verhältnis von Bewunderung, Abhängigkeit, Fürsorge und Macht entfalten kann. Auch das Kümmern, wie Camille Henrot es in ihren Arbeiten thematisiert, ist ein widersprüchlicher Akt, in dem Ermächtigung und Entmündigung, Hingabe und Kontrolle oft kaum voneinander zu unterscheiden sind. Von diesem Paradox erzählt das leise Gestammel aus dem Babyfon unter der Decke der Lokremise – selbst das abwesende Kind fordert ungeteilte Aufmerksamkeit, ist mit jeder Regung dauerpräsent. Gerade deshalb aber ist es nicht nur Objekt von Care-Arbeit, sondern auch handelndes Subjekt, das durch sein Verhalten unmittelbaren Einfluss ausübt auf den Kräftehaushalt seiner Eltern. Die monströse Skulptur „Maternelle“ liefert dafür ein schräges Mahnmal. Statt Kopf wächst der massigen Muttergestalt ein verdrehter Kindertorso aus dem Rumpf, die dünnen Beine, die ihr Gewicht tragen, sind überzogen von strammen, prallen Adern, welche wie Wurzeln aus dem Fleisch wuchern und die Mutterfigur mit aller Macht am Boden halten, geerdet durch bleierne Schwere. Daneben erhebt sich wie eine Hommage an Louise Bourgeois’ Spinnen-Mütter die Installation „Abacus 347“, in Anspielung auf das antike Rechengerät, mit dem Kinder Addieren lernen. Camille Henrot nutzt es hier als Metapher für die endlose Wiederholung immer gleicher Tätigkeiten und das Zählen der Stunden, Tage und Jahre, die, wie sie in „Milkyways“ schreibt, den Rhythmus von Pflegearbeit definieren. Davor schiebt sich ein riesiges Paar Beine aus Bronze durch die Lokhalle, an denen im Gänsemarsch ein stilisiertes Grüppchen von Kleinkindern hinterher trottet. Die Holzperlenkette, die sie hinter sich herziehen, lässt das Ensemble aus der Ferne aussehen wie ein Saurier auf der Pirsch. Und wieder schnauft dazu das Bügeleisen. „Iron Defiency“ heißt die Skulptur aus einem Bügelbrett und einem Laken, unter dem sich die Konturen eines weiblichen Körpers abzeichnen. Für sie, so Henrot, verkörpere diese Figur die Verausgabung, in die Care-Arbeit, die gesellschaftlichen Ansprüche an Mutterschaft und das Ringen mit dem eigenen Handeln zwischen Macht und Ohnmacht münden.