Leda Bourgogne: Ambivalenzen der Nähe

Leda Bourgogne, Jailbirds, 2023, Courtesy BQ, Berlin, Foto: BQ, Berlin
Porträt > Münster > Westfälischer Kunstverein
6. Juli 2023
Text: Dietrich Roeschmann

Leda Bourgogne: Mêlée.
Westfälischer Kunstverein,
Rothenburg 30, Münster.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 19.00 Uhr. 15. Juli bis 8. Oktober 2023.
www.westfaelischer-kunstverein.de

Der König ist tot, lang lebe die Königin
u.a. mit Leda Bourgogne
Museum Frieder Burda,
Lichentaler Allee 8b, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
www.museum-frieder-burda.de

Leda Bourgogne
Leda Bourgogne, Edge of Desire, 2022, Courtesy the artist & und BQ, Berlin, Foto: Joanna Krawczyk
Leda Bourgogne
Leda Bourgogne, Clavicle, 2022, Courtesy the artist & und BQ, Berlin, Foto: Joanna Krawczyk
Leda Bourgogne, Eccomi, 2018, Privatsammlung © Leda Bourgogne; Foto: Roman März, Berlin
Leda Bourgogne
Leda Bourgogne, Antlia, 2022, Courtesy the artist & und BQ, Berlin, Foto: Joanna Krawczyk

[— artline Nord] Im Kunstraum FRAGILE in Berlin ließ Leda Bourgogne (*1989) vor ein paar Monaten ein gutes Dutzend ihrer Lieblingsbücher an Poledance-Stangen performen. Olivia Laings gefeierter Essay „Everybody“ über die Widerstandspotenziale des Körpers war dabei. Der Kurzroman „Die Verzückung der Lol V. Stein“ von Marguerite Duras, dem Jaques Lacan 1965 eine eigene Hommage widmete. Aber auch Anne Carsons 1998 erschienenes erotisches Versepos „Autobiography of Red“, das heute als antike und moderne Mythen verbindender Crossover-Klassiker im lasziven Sound von Velvet Underground gilt. Aus einem Briefkasten flüsterte Bourgognes Stimme dazu Zeilen aus ihrem eigenen Zyklus „Edge of Desire“ und die Bilder an den Wänden erzählten in all ihrer verführerischen Weichheit aus Samt, Chiffon und Satin von einem seltsam unstillbaren Verlangen nach Nähe, gleichermaßen angeregt und auf Distanz gehalten durch applizierte Reißverschlüsse und Nähte, die auf mögliche Öffnungen in der Haut verwiesen und damit nicht zuletzt auf Narben von Gewalt. Die Titel der Schau „Tyranny of Tenderness“ war da durchaus programmatisch.

Diese Verbindung von Poesie und Psychoanalyse, Material und Körper, Sound und Sprache ist typisch für Leda Bourgognes künstlerische Praxis. Die gebürtige Wienerin, die in Berlin lebt und arbeitet, hat an der Frankfurter Städelschule studiert und machte 2017 ihren Abschluss bei Judith Hopf. Seither hatte sie mehrere Einzelausstellungen und war an zahlreichen Gruppenschauen beteiligt. Inspiriert von der britischen Kunsthistorikerin Rozsika Parker, die Mitte der 1980er-Jahre mit „The Subversive Stitch“ eine bahnbrechende feministische Geschichte der textilen Handarbeit geschrieben hat, erkundet sie Möglichkeiten von Freiheit, Gemeinschaft und widersprüchlichem Handeln in Strukturen, die auf Vereinzelung und Eindeutigkeit zielen. In der Ausstellung „Der König ist tot, lang lebe die Königin“, mit der das Baden-Badener Museum Frieder Burda an Peggy Guggenheims legendäre Schau „31 Women Artists“ erinnert, ist Leda Bourgogne derzeit mit einem Harlekin-Porträt vertreten, das Picassos melancholischem Selbstbildnis aus der rosa Periode ein weibliches Gesicht gibt und den klassischen Harlekinruf „Eccomi!“ – hier bin ich! – zum feministischen Slogan ummünzt.

Der Westfälische Kunstverein Münster widmet der 33-Jährigen nun ihre bislang größte Soloschau. Der Ausstellungstitel „Mêlée“ lässt sich mit Getümmel übersetzen. In der Theorie der Kriegsführung beschreibt er die taktische Aufhebung der Gefechtsordnung, die im Nahkampf mündet. Was Leda Bourgogne daran interessiert, ist das Konzept der Selbstverteidigung, und zwar im umfassenden Sinn als Verteidigung der eigenen körperlichen und mentalen Identität und Integrität – und so gesehen als ein Akt der Selbstsorge. Das Ringen im Nahkampf ist ein Ringen mit sich und mit dem Gegenüber. Unberührt von äußeren Machtverhältnissen geht es dabei immer auch um den intimen Moment des Teilens körperlicher und seelischer Wunden als Möglichkeit, eine Beziehung auf Augenhöhe zu schaffen. Im Zentrum von Leda Bourgognes raumgreifender Installation „Mêlée“ steht so unter anderem der Boxkampf als herrschaftskritische Methode der Selbsthauptung.